© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/05 21. Oktober 2005

Widersprüchliche Signale aus Böhmen und Mähren
Tschechei: Der Umgang mit den 1945 erlassenen Benes-Dekreten und Opfern der Vertreibung belastet weiter die Beziehungen zu Deutschland
Martin Schmidt

Am 18. Oktober 1945 erließ der damalige Präsident Edvard Benes das Dekret 122, mit dem die Deutsche Universität Prag "als ein dem tschechischen Volk feindliches Institut für immer aufgelöst" wurde. Mit dem Benes-Dekret 108 vom 25. Oktober wurde das gesamte Vermögen von "Personen deutscher oder madjarischer Nationalität" ohne Entschädigung konfisziert.

Sechzig Jahre später sind Deutschland und die Tschechei gemeinsam Mitglied in Uno, Nato und EU - doch im Hinblick auf die sudetendeutsche Frage gibt es immer noch verwirrende Signale aus den europäischen Herzländern Böhmen und Mähren. Die meisten heutigen dortigen Politiker und Bewohner tun sich mit dem an den Sudetendeutschen begangenen Unrecht bekanntlich sehr schwer.

Seit einigen Jahren ist aber ein Umdenken erkennbar - vor allem bei jüngeren Tschechen. Mährens Hauptstadt Brünn veranstaltete in diesem Jahr erstmals eine offizielle Gedenkfeier für die Opfer des am 31. Mai 1945 begonnenen "Brünner Todesmarsches", und das nordböhmische Aussig erregte am 31. Juli internationales Aufsehen mit seiner Erinnerung an das berüchtigte Massaker vom Sommer 1945 (JF 31-32/05). Das vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds und der Robert-Bosch-Stiftung mitfinanzierte Aussiger Collegium Bohemicum plant sogar den Aufbau eines Museums der Deutschen in Böhmen, das einstweilen allerdings noch unter einem unguten propagandistischen Stern steht, da es als "tschechische Antwort auf das Zentrum gegen Vertreibungen" in Berlin konzipiert wird. Aber auch hier wurden bereits tschechische Tabus gebrochen. Vor allem, als führende Mitarbeiter des Collegium Bohemicum mit Johann Böhm zusammentrafen, dem Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft.

Rückgabe von enteignetem Besitz nur in Ausnahmefällen

Von nachhaltiger Bedeutung könnte auch ein Urteil des Verfassungsgerichtshofes in Brünn von Mitte August sein. Es untersagte die bisherige Praxis tschechischer Gerichte und Behörden, adlige Deutsche aus Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien mit einst tschechoslowakischer Staatsangehörigkeit als NS-Anhänger oder Kollaborateure zu verleumden, um unter Berufung auf die Benes-Dekrete ihren enteigneten Besitz nicht an die Erben zurückgeben zu müssen. Die Brünner Richter gaben damit - allen Protesten von Politikern und Meinungsmachern zum Trotz - der Klage der beiden Töchter des 1946 verstorbenen Fürsten Salm-Reifferscheidt statt.

Hugo Salm hatte kurz vor seinem Tod vom zuständigen tschechischen Nationalausschuß einen provisorischen Staatsbürgerschaftsbescheid bekommen, den der Verwaltungsgerichtshof nach einer Entscheidung des tschechischen Innenministeriums im Jahr 2002 annullierte, da er angeblich unrechtmäßig ausgestellt worden sei. Man verwies auf das Benes-Dekret 33 vom 2. August 1945, das all jenen, die 1938/39 reichsdeutsche Staatsbürger geworden waren, den tschechoslowakischen Paß aberkannte, sofern sie sich nicht nachweislich als NS-Gegner hervortaten. Doch ausgerechnet dieses Dekret war bereits 1949 außer Kraft gesetzt worden.

Der Verfassungsgerichtshof sprach von einem Verstoß gegen die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und betonte die erwiesene NS-Gegnerschaft des Fürsten. Dessen mährisches Schloß Raitz und rund 7.000 Hektar Land müssen nun an die Töchter zurückgegeben werden, die Anfang der neunziger Jahre einen Teil des Besitzes bereits zurückerhalten hatten, um nach dem jetzt hinfälligen Richterspruch von 2002 erneut enteignet zu werden. Neben dem privaten Erfolg der Familie Salm-Reifferscheidt ist das Brünner Urteil insofern bemerkenswert, als es in einem Einzelfall die unrechtmäßigen Folgen der wahrheitswidrigen Behauptung korrigierte, die Benes-Dekrete seien "erloschen" und begründeten keine neuen Rechtsbeziehungen mehr.

Alte Feindbilder noch immer stark

Doch die an den alten Feindbildern festhaltenden Kräfte sind noch immer stark. Dies zeigte sich deutlich mit der Aufstellung einer Benes-Statue vor dem Prager Außenministerium am 16. Mai 2005. Zwar hat sich die tschechische Regierung am 24. August - nach einem mehr als zweijährigen internen Ringen - endlich zu einer Entschuldigung an all jene Sudetendeutschen bereitgefunden, die sie zu den "aktiven Gegnern des Nationalsozialismus" zählt und die in der unmittelbaren Nachkriegszeit ebenfalls unter dem Entrechtungs- und Vertreibungsunrecht leiden mußten.

Und sie leitete, um deren Schicksale zu würdigen und sie dokumentarisch aufzuarbeiten, ein bis Ende September terminiertes und mit einem Finanzumfang von einer Million Euro versehenes "Dokumentationsprojekt" ein. Allen Hoffnungen auf eine auch finanzielle Entschädigung der noch lebenden schätzungsweise 200 sudetendeutschen NS-Gegner erteilte man jedoch eine Absage.


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