© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 43/05 21. Oktober 2005

Abstieg im Weltmaßstab
Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Westens beantwortet Meinhard Miegel mit einem erneuten Kassandraruf
Thorsten Hinz

In seinem vorletzten Buch hatte der Wirtschaftswissenschaftler Meinhard Miegel dargestellt, daß er die deutsche Gesellschaft für eine "deformierte" hält, in seinem neuesten dehnt er den Befund auf den gesamten Westen aus. Deutschland steckt also nicht allein in der Krise.

Tröstlich ist das, wenn überhaupt, nur auf den ersten Blick, weil sich auf den zweiten daraus ergibt, daß plumpe Anleihen bei unseren Nachbarn keinen Ausweg versprechen. All die irischen, holländischen, schwedischen, englischen und slowakischen Modelle, die kursieren, haben entweder ihre Halbwertzeit überschritten oder basieren auf einer europainternen Vorteilnahme, der die globale Entwicklung gerade die Grundlage entzieht. Die USA, die die mächtigste Volkswirtschaft stellen, decken ihren Kapitalbedarf im große Umfang über Auslandsandsanleihen ab, die ihnen aus China zufließen. Die künftigen Kräfteverhältnisse spiegeln sich hier bereits wider.

Deutschland und die anderen westlichen Länder werden sich auf völlig neue Konstellationen und Aufgaben einstellen und auf unbetretenes Gebiet vorwagen müssen. Doch worin besteht laut Miegel die Deformation des Westens? Zuerst in der Blindheit gegenüber dem eigenen Abstieg im Weltmaßstab, gegenüber seinem Ausmaß, den Ursachen, Erscheinungen und Folgen.

Miegel sieht den Westen mitten in einer Epochenwende, in der seine globale Vorherrschaft unwiderruflich zu Ende geht. Dafür nennt er eindrucksvolle ökonomische, demographische und politische Fakten. Er referiert sie ohne dramatisches Tremolo, sondern mit der Sachlichkeit eines Physikers. Für ihn bestätigt sich nur ein Naturgesetz, wonach eine aufsteigende Kurve irgendwann ihren Scheitelpunkt erreicht hat und anschließend nach unten führt. Auch in früheren Gesellschaften läßt sich beobachten, daß die erste Generation den Wohlstand erarbeitet, die zweite ihn bewahrt und mehrt, die dritte ihn für selbstverständlich hält und ausschließlich genießen will.

Der Hinweis auf die Wiederaufbau-Euphorie der Nachkriegszeit, der als Medizin gegen die gesellschaftliche Depression verabreicht wird, hat nur begrenzte Wirkung. Die wirtschaftlichen, geistigen, gesellschaftlichen Energien und Fähigkeiten, die das Wirtschaftswunder ermöglichten, waren seinerzeit Exklusiveigenschaften des Westens. Inzwischen sind sie für die aufstrebenden Länder Asiens selbstverständlich geworden.

Zweitens hat der jahrzehntelange Erfolg des Westens zu seiner Sättigung und Bequemlichkeit geführt. Seine Märkte sind keine Wachstumsmärkte mehr, die Menschen überwiegend genuß- und freizeitfixiert und außerstande, mit den ebenso bildungssüchtigen wie genügsamen Chinesen oder Indern zu konkurrieren. Miegel ist kein Wachstumsgegner, nur hält er die Hoffnung für irreal, die Arbeitslosigkeit als das Kernübel der Gesellschaft ließe sich durch Wachstum effektiv abbauen. Nein, die Abwanderung des Kapitals in Weltgegenden, wo die Produktion quantitativ und qualitativ vergleichbar, die Kosten aber bedeutend niedriger sind als in Europa, ist unaufhaltsam. Die westlichen Konsumenten unterstützen diese Entwicklung noch, indem sie die Waren kaufen, die am billigsten sind. Sie verhalten sich so, wie sie es gelernt haben.

Es war zu erwarten, daß Kritiker den Autor dadurch zu erledigen versuchen, indem sie ihn eine Kassandra und einen Spengler-Epigonen nennen. Nur hat Kassandra, nach einem Wort von Goethe, bloß das vorausgesagt, was längst vor der Türe stand, und Spengler hat aus kulturgeschichtlicher Perspektive exakt jenen Prozeß antizipiert, dessen Vollzug Miegel hier konstatiert, analysiert, ohne ihn für katastrophisch zu halten. Im Gegenteil, weil Entwicklungen wie die Alterung der Bevölkerung über kurz oder lang auch andere Kulturen ereilen werden, sieht er Europa erneut in einer Pionier- und Vorbildfunktion.

Die Europäische Union hat ihre Lissabon-Agenda, die den Weg Europas zur dynamischsten Region der Welt bis 2010 vorzeichnete, stillschweigend begraben und damit Realismus bewiesen. Was bleibt jetzt als Alternative? Miegel begibt sich über den Bereich der Ökonomie hinaus und auf das Feld der Historie, der Kultur, der Gesellschaftspolitik, der Massen- und Invidualpsychologie. In seiner Darstellung beginnt der Abstieg des Westens von einer beispiellosen Höhe materiellen Reichtums aus. Europa ist begünstigt durch sein Klima, seine natürlichen Gegebenheiten und sein kulturelles und geistiges Erbe. Das ist sein Kapital. Sein größtes Risiko ist jener moderne, dekadent-eindimensionale Phänotyp des Menschen, der nach den Gesetzen der kapitalistischen Produktionsweise auch die der Freizeitgesellschaft verinnerlicht hat und Gesellschaft und Politik den Stempel aufdrückt.

Miegel kritisiert die falsche "Idolisierung der Arbeit", vor allem der Erwerbsarbeit, die zu einer hektischen Suche nach immer neuen Marktlücken für unnütze Produkte führt, ohne daß der versprochene Aufschwung eintrifft. Die Kehrseite besteht in der Hingabe an eine infantile Freizeitindustrie, an Völlerei, Vandalismus und Drogenkonsum mit milliardenschweren Folgekosten. Spätestens an diesem Punkt stellt sich die Frage nach den "Seinsgründen" der Gesellschaft, die zur Zeit offen wie ein Scheunentor ist. Unbezweifelbar hat die demographische Entwicklung auch eine qualitative Komponente. Weil gerade die gebildeten Schichten auf Nachwuchs verzichten, ist die Verdummung der Gesellschaft eine reale Option. Die weitverbreitete Kinderlosigkeit hat die Nebenfolge, daß der Horizont der persönlichen und politischen Vorausschau sich maximal auf die eigene Lebenserwartung erstreckt. In der Nach-mir-die-Sintflut-Haltung liegt eine mentale Ursache für die Leichtfertigkeit, mit der die permanente Steigerung der Staatsverschuldung hingenommen wird.

Selbst wenn die Forderung erfüllt wird, die knapper werdenden Mittel endlich auf Bildung und Forschung zu konzentrieren, bleibt die Rückkehr in die Welt von gestern utopisch. Um materielle Verluste abzumildern, ist neben der Reform der Sozialsysteme eine umfassende Neuorientierung in der Frage nötig, was das Leben lebenswert macht. Finanzielle Einbußen können laut Miegel durch die Entschleunigung des Lebens, durch die Wiederbelebung sozialer Kompetenzen und Tugenden mehr als kompensiert werden. Im Mittelpunkt einer Wertedebatte müßte die Neudefinition und Erweiterung des Arbeitsbegriffs stehen, um der immer größeren Anzahl der Desintegrierten die soziale und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Statt Geschichtspessimismus zu predigen, verlangt Miegel etwas, was noch nirgendwo gelungen ist: aus der Geschichte zu lernen.

Meinhard Miegel: Epochenwende. Gewinnt der Westen die Zukunft? Propyläen Verlag, Berlin 2005, 312 Seiten, gebunden, 22 Euro

Foto: Treffpunkt alter Männer in Caleta del Sebo auf der spanischen Insel La Graciosa: Vorausschau maximal auf die eigene Lebenserwartung


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