© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/05 04. November 2005

Tabu muß sein!
von Moritz Schwarz

Viel kann man dem Schweizer Verein Dignitas, der gegen Gebühr Tötung auf Verlangen anbietet und nun auch in Deutschland präsent ist, vorwerfen. Das Fernseh-Magazin Report entschied sich zum Beispiel dafür, ihm unter anderem außergesetzliche Tötungen zu unterstellen. Hinweise ja, Beweise nein. Wahrheit? Rufmord? Fakt ist, der Verein operiert an der Grenze des Erlaubten - aus Überzeugung. Anders als Deutschland gestattet die Schweiz Tötung auf Verlangen in bestimmten medizinischen Fällen, Dignitas-Chef Ludwig Minelli träumt jedoch von einem Freitodrecht für jedermann, jederzeit.

Sich darüber zu echauffieren ist Heuchelei, denn Minelli nimmt, ebenso wie der Kannibale von Rothenburg, der sich 2004 vor Gericht auf das Recht seines Opfers berief, sich für seinen eigenen Verzehr zu entscheiden, lediglich vorweg, worauf die Gesellschaft zusteuert. Aus "Mein Bauch gehört mir!" heute, wird "Mein Fleisch gehört mir!" morgen. Über Jahrzehnte haben alle Parteien und gesellschaftlichen Gruppen eifrig an der individualistisch-permissiv verfaßten Gesellschaft gebaut, sie haben damit heute die strategische Reserve geschaffen, mit der die "Sterbehilfe"-Lobbyisten morgen ihren Sieg erringen werden: Dreiviertel des Volkes befürworten laut Umfrage schon das Töten auf Verlangen, weil sie angesichts der Idee von der Erfüllung durch Individualität den Wert der Unantastbarkeit des Lebens gar nicht mehr verstehen. Widerstand hat nur noch einen Zweck, wenn er sich gegen diese Kultur des Todes an sich - ob Abtreibung, Embryonen-Forschung oder "Sterbehilfe" - richtet. Tabu muß sein!


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