© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/05 11. November 2005

Kolumne
Augenmaß statt Augenhöhe
Klaus Motschmann

Seit geraumer Zeit breitet sich in der politischen Diskussion ein neuer Modebegriff aus: "gleiche Augenhöhe". Alle möglichen Parteien und Politiker, Verbände und Staaten bemühen sich bei allen möglichen Verhandlungen um eine möglichst "gleiche Augenhöhe". Dagegen soll zunächst auch gar nichts eingewandt werden, sofern man auf diesem Wege zur Lösung dringender Probleme vorankommt und nicht nur die Anmutung vermittelt wird, daß auf diese Weise politische Minderwertigkeitskomplexe kompensiert oder persönlicher Ehrgeiz befriedigt werden sollen.

Aber wie dem auch sei: Eine wirklich entscheidende Voraussetzung verantwortlichen politischen Handelns ist die gleiche Augenhöhe nicht - sondern das "Augenmaß". Max Weber, der Nestor der deutschen politischen Soziologie, hat das Augenmaß neben dem Verantwortungsgefühl und der Leidenschaft (nicht zu verwechseln mit "steriler Aufgeregtheit") zu den unabdingbaren Voraussetzungen verantwortlicher Politik gerechnet. Er definiert das Augenmaß als die Fähigkeit, "die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen, also: der Distanz zu den Dingen und Menschen. 'Distanzlosigkeit', rein als solche, ist eine der Todsünden jedes Politikers und eine jener Qualitäten, deren Züchtung bei dem Nachwuchs unserer Intellektuellen sie zu politischer Unfähigkeit verurteilen wird" (Der Beruf zur Politik). Die politische Entwicklung in Deutschland hat diese Aussage vielfach bestätigt. Als ein Beispiel für diesen Sachverhalt sei nur an das Prinzip der ideologisch diktierten "Parteilichkeit" erinnert, an dem sich Theorie und Praxis unseres intellektuellen und politischen Nachwuchses inzwischen weithin orientiert. Das Augenmaß mußte - und sollte - dabei verlorengehen - und damit die Fähigkeit zuverlässiger Orientierung und Wegweisung in die vielzitierte "bessere Zukunft".

So erklärt es sich, daß die meisten Lösungsvorschläge zur Überwindung der vielfachen Notlagen in unserem Volk jegliches Augenmaß für das Machbare vermissen lassen. Sie erzeugen mit den Diskussionen über immer neue Steuer- und Beitragsveränderungen, Sparvorschlägen aller Art, Umschichtungen der Sozialausgaben und sonstigen rein wirtschaftlichen Maßnahmen allenfalls einen Placebo-Effekt. Er ermöglicht zwar vorübergehende Linderung der Beschwerden, aber keine dauerhafte Heilung. Damit sind Enttäuschungen vorprogrammiert, die zu einem weiteren Vertrauensverlust und weiterer Politikverdrossenheit führen. Deshalb kann das Gebot der Stunde nur lauten: Zurück zum Augenmaß!

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.


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