© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/05 11. November 2005

Landärzte sterben weg
Gesundheitspolitik: In den neuen Bundesländern droht mittelfristig ein Medizinermangel / Importärzte keine Lösung
Jens Jessen

Seit Wochen streitet die Ärztegewerkschaft Marburger Bund (MB) für eine 30prozentige Gehaltserhöhung für die 22.000 Uniklinikärzte in Deutschland. Bei der kommenden Verhandlungsrunde am 14. und 15. November soll zudem über die jährlich anfallenden etwa 50 Millionen Überstunden verhandelt werden, die überwiegend nicht vergütet würden. Die schlechte Bezahlung sei für den zunehmenden Ärztemangel in Krankenhäusern und die Abwanderung deutscher Ärzte ins Ausland verantwortlich, argumentiert MB-Chef Frank Ulrich Montgomery.

"Pflichtjahr" zum Erhalt des Versorgungsnetzes

Bei den niedergelassenen Ärzte sind Montgomerys Befürchtungen schon eingetroffen. Denn seit Jahren verringert sich in Deutschland die Zahl der Absolventen eines Medizinstudiums. Immer häufiger entscheiden sich die jungen Ärzte für Einsatzgebiete außerhalb des Bereichs Patientenversorgung, in denen weitaus höhere Einkommen erwirtschaftet werden als im Krankenhaus oder der Arztpraxis. Im ambulanten Bereich führt das zu einer Ausdünnung des Versorgungsnetzes.

In einzelnen Gebieten droht der Zusammenbruch der Sicherstellung, speziell in den neuen Bundesländern. Die Finanziers der Gesundheitskosten, die Gesetzlichen Krankenkassen (GKV), wollten dieses absehbare Dilemma nicht wahrhaben. Noch vor drei Jahren wurden die Warnungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) vor einem drohenden Ärztemangel als Panikmache in den Wind geschlagen.

AOK-Vertreter haben daher kürzlich vorgeschlagen, das Problem der Unterversorgung mit der Zwangsverschickung junger Ärzte für ein Jahr auf das platte Land in Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg zu lösen. Ärzte sollen sich nur noch in einer Kassenpraxis niederlassen können, wenn sie dieses "Pflichtjahr" nachweisen können.

Doch der dortige Medizinermangel hat seine Gründe. Wer kann es den jungen Ärzten verdenken, daß sie eine Stelle suchen, wo man gut verdient? Ein niedergelassener Arzt im Westen Deutschlands erhält pro Behandlungsfall im Schnitt 50,50 Euro. Sein Ost-Kollege muß mit einen Viertel weniger (40,40 Euro) auskommen.

Und schon die heutige Versorgungssituation läßt Schlimmes ahnen. Allein in Thüringen sind 112 Hausarztpraxen nicht besetzt (Stand Juni 2005), davon 15 in der Landeshauptstadt Erfurt. Im Facharztbereich fehlen 71 Ärzte. Da nach KBV-Berechnungen bis 2010 mehr als 40 Prozent der Hausärzte in Mitteldeutschland aus der Patientenversorgung ausscheiden, wird die vom nachrückenden Jungarzt zu versorgende Klientel noch zunehmen.

Untersuchungen der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen haben ergeben, daß die Überalterung der Bevölkerung im Westen weitaus langsamer voranschreitet als in den neuen Bundesländern. Ein Grund dafür ist die Abwanderung der Jungen aus den neuen Ländern. Der Rentneranteil nimmt sprunghaft zu, die Morbidität ebenfalls. Die GKV-Einnahmen werden nicht mehr ausreichen, die Kosten zu decken, da Rentner deutlich geringere Beiträge zahlen als Arbeitnehmer. Da es für die GKV keinen Finanzausgleich zwischen West und Ost gibt und die Kassen nicht mehr ausgeben dürfen, als sie einnehmen, sinken die Fallpauschalen - und so die Ärztehonorare - weiter. Gesundheitsökonomen wundern sich deshalb nicht, daß die ambulante Gesundheitsversorgung zunehmend ausbluten wird, weil die an den Universitäten in den neuen Ländern ausgebildeten Ärzte lieber im Westen eine Praxis übernehmen als in Mitteldeutschland. Der Versuch, osteuropäische Ärzte zwischen Rügen und der Lausitz heimisch werden zu lassen, ist gescheitert. Der Großteil der Angeworbenen ist nach kurzer Zeit in den Westen abgewandert.

Verteilungsstreit zwischen ambulant und stationär

Was ist zu tun? Das "Landjahr" für Jungärzte wird nicht zu deren Motivierung beitragen. Gleiche Arbeitsbedingungen für die Vertragsärzte in beiden Teilen Deutschlands könnten ein probateres Mittel sein. Das aber kostet Geld, das aufgrund der Gesetzgebung nicht zur Verfügung gestellt werden soll.

Als KBV-Chef Andreas Köhler zusammen mit der thüringischen KV-Chefin Regina Feldmann eine Finanzspritze von 700 Millionen Euro für die neuen Bundesländer forderte, um zumindest das heutige Versorgungsniveau halten zu können, war das Geschrei der Bedenkenträger groß: Die Gesundheitskosten würden steigen und damit die Schulden der GKV. Der Vorschlag, die Finanzierung über einen Teil der so oder so kommenden Mehrwertsteuer-Erhöhung vorzunehmen oder einen gesamtgesellschaftlich zu finanzierenden Fonds aufzulegen, stieß auf taube Ohren.

Noch ungnädiger wurde der Vorschlag aufgenommen, Finanzmittel zwischen den Gesundheitssektoren zu verschieben. Insbesondere die Krankenhaus-Lobby blies ihren Unmut in die Presse. Obwohl 90 Prozent der Bevölkerung ambulant versorgt werden, sind 2000 bis 2004 die Kosten für den ambulanten Bereich in Thüringen nur um 1,3 Prozent gestiegen. Für den Krankenhausbereich wurden 11,5 Prozent mehr zur Verfügung gestellt.

Diese ungleiche Verteilung GKV-Gelder auf die Sektoren wird den ambulanten Bereich so weit austrocknen, daß er in den neuen Bundesländern die Sicherstellung der ambulanten Versorgung nicht mehr gewährleisten kann. Es geht allem Anschein nach nicht darum, das System der ambulanten Versorgung für die Bevölkerung zu retten. Die bis vor kurzem wider besseres Wissen gebetsmühlenartig vorgebrachte Behauptung, Deutschland habe eine Ärzteschwemme, ist erst zurückgenommen worden, als die Versorgungsengpässe nicht mehr weggelogen werden konnten.

Jetzt ist der Punkt gekommen, mit fadenscheinigen Argumenten die nötigen Mittel für die Kräftigung der ambulanten Versorgung in den neuen Ländern vorzuenthalten. Der Eindruck verstärkt sich, daß es hier um Ideologie geht. Tarnkappensozialisten in der Politik und verbandelte Kassenfunktionäre wollen wohl das zu Ende führen, was die DDR nicht ganz geschafft hat: die Beseitigung des freien Berufs "niedergelassener Arzt".

Vielleicht besinnt sich die westdeutsche Ärzteschaft nicht zu spät der kollegialen Hilfe für ihre Kollegen in den neuen Ländern. Wenn sie nicht hilft, kommt der Zeitpunkt, daß auch ihr nicht mehr geholfen werden kann. Sind die Kollegen im Osten nämlich von der Bildfläche verschwunden, ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann die "Wessi-Doktoren" wegradiert sind.


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