© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/05 11. November 2005

Zeitschriftenkritik: Orbis
Die Welt richtig verstehen
Richard Stoltz

Neben der allseits bekannten US-amerikanischen Vierteljahreszeitschrift Foreign Affairs, die in der Tendenz dem amerikanischen politischen Messianismus der militärischen Demokratieförderung verpflichtet ist, bemüht sich die bedauerlicherweise weniger bekannte Vierteljahreszeitschrift Orbis - A Journal of World Affairs um ein realistisches Weltverständnis und eine entsprechende Interessendefinition, wofür etwa Samuel P. Huntington steht, Mitglied des Beratergremiums der Zeitschrift. Orbis stellt so in vielem ein argumentatives und konzeptionelles Gegengewicht zur etablierteren Konkurrenzzeitschrift dar.

Diese Einschätzung kann anhand der Sommerausgabe demonstriert werden, die schwerpunktmäßig dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und den sich daraus ergebenden weltpolitischen Umschichtungen gewidmet ist. Dabei wendet sich die Darstellung Chinas gegen Generalisierungen und Fehlschlüsse, die sich die amerikanische Außenpolitik angesichts der absehbaren Bedeutung Chinas nicht mehr erlauben könne. Als wesentliches Mittel, zu einem realistischen Verständnis Chinas zu gelangen, wird die Analyse der Schriften von Chinesen vorgeschlagen, die das chinesische Selbstverständnis zum Thema haben. Anhand der Tatsache, daß wirtschaftliche Verflechtungen wie im Falle Chinas, Japan und Süd-Koreas mitnichten zu einer politischen Entspannung führen müssen, wird den simplen Konzeptionen etablierter amerikanischer Außenpolitik entgegengetreten. Auch der Hinweis, daß die Demokratisierung Süd-Koreas nicht unbedingt mit einer Zunahme der Amerikafreundlichkeit einhergeht, ist hier zu erwähnen.

Der Aufstieg Chinas läßt das Hauptfeld der derzeitigen amerikanischen Außenpolitik, nämlich den Mittleren Osten und den Kampf gegen den Islamismus, als ziemlich irrelevant erscheinen. Dabei wird ein Vergleich mit der britischen Politik Ende des 19. Jahrhunderts hergestellt, die sich zur Verbreitung des Liberalismus in zahllose Kleinkriege insbesondere in Afrika verzettelt habe, während das eigentliche Thema die Änderung der Machtbalance durch den wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands gewesen wäre. Damit ist keine Gleichsetzung zwischen dem Deutschland des 19. Jahrhunderts und der Volksrepublik China vorgenommen, sondern es geht um die Demonstration der politischen Auswirkungen des plötzlichen wirtschaftlichen Aufstiegs eines bislang insoweit zweit- oder drittrangigen Staates.

Ein weiterer Artikel befaßt sich mit dem Befinden der ehemaligen DDR-Bevölkerung und kommt zum Ergebnis, daß Deutschland mental bei weitem weniger vereinigt sei als rechtlich. Das liberale (west-)deutsche Establishment habe im Interesse der Vergangenheitsbewältigung die Reste des Nationalgefühls in einer Weise unterdrückt, daß dies auf eine neue Form des Autoritarismus im Namen des Liberalismus hinauslaufe. Als Beleg dafür wird neben dem zentralen Werk Caspar von Schrenck-Notzings "Charakterwäsche" (Neuauflage 2004) das Buch von Josef Schüßlburner "Demokratie-Sonderweg Deutschland" (2004) herangezogen. Nach der Lektüre bleibt nur zu wünschen, daß Orbis in Deutschland mindestens so bekannt wird wie die Konkurrenz.

Kontakt: Foreign Policy Research Institute, 1528 Walnut Street, Suite 610, Philadelphia, PA 19102-3684


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