© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/05 11. November 2005

Extremsport für Faule
Nervenkitzel im Kino: "The Descent" von Neil Marshall
Michael Insel

Im Kino werden die schönsten Träume zwar nicht wahr, aber doch überlebensgroß in Technicolor realisiert - die schlimmsten Alpträume ebenfalls, und welcher Alptraum wäre grauenhafter als der, lebendig begraben zu sein?

In Neil Marshalls "Dog Soldiers" (2002) mußten Soldaten eine Werwolfplage in den schottischen Hinterwäldern bekämpfen - Kritiker wie Horrorfans waren begeistert. Drei Jahre später meldet sich der britische Regisseur und Drehbuchautor nun mit "The Descent - Abgrund des Grauens" zurück. Dem sehr viel dunkleren "Schwesterfilm", wie er ihn nennt, seines Leinwanddebüts merkt man nicht nur das großzügigere Budget an, sondern auch daß Marshall künstlerisch gereift ist.

Statt eine eingeschworene Gemeinschaft unerfahrener Jünglinge übernatürlichen Mächten auszuliefern, begleitet er diesmal vier Extremsport-Fanatikerinnen auf der Suche nach dem ultimativen Nervenkitzel. So schlicht das Strickmuster dieses Films ist, so offensichtlich die Anleihen bei Genre-Klassikern wie Wes Cravens "Hügel der blutigen Augen" (1977), Sam Raimis "Tanz der Teufel" (1983) oder Ridley Scotts "Alien" (1979), macht Marshalls subtiler und zugleich spielerischer Umgang mit altbekanntem Material daraus keinen bloßen Abklatsch, sondern eine von Anfang bis Ende atemberaubende Geisterbahnfahrt durch die Abgründe einer allzu realistischen Hölle.

Eine Wildwasserfahrt, die Sarah (Shauna Macdonald) in Schottland mit ihren Freundinnen Juno (Natalie Mendoza) und Beth (Alex Reid) unternimmt, endet mit einem tragischen Unfall. Ein Jahr später trifft sich das Trio mit drei weiteren Adrenalin-Junkies zum nächsten Abenteuerurlaub in den Appalachen, um gemeinsam ein Höhlensystem zu erforschen. Nebenbei soll das von der lebenslustigen Juno geplante Wochenende Sarah über ihren Verlust hinweghelfen und eine an Schuldgefühlen und Mißtrauen zerbrochene Freundschaft flicken.

Kaum haben sie sich in den pechschwarzen Krater abgeseilt, der als Eingang in die von Bühnenbildner Simon Bowles entworfene Unterwelt dient, da geht der Ärger schon los. Ein Steinschlag schneidet ihnen den Rückweg ab, und die einzige Überlebenschance der draufgängerischen Frauen liegt darin, noch tiefer in die Erde einzudringen.

Eine ganze Stunde lang nimmt Marshall sich Zeit, die Spannung dichter und dichter werden zu lassen, während die Hoffnungen der Freundinnen immer wieder aufflackern und verlöschen. Ihre verzweifelte Lage wird greifbar, wenn sie über Schluchten schwingen und durch enge Felsspalten kriechen, um dem kleinsten Lufthauch nachzugehen. Besonders beeindruckend ist Sarahs Panikanfall, als sie in einem Tunnel steckenbleibt.

Sam McCurdys Kameraführung taucht das unterirdische Labyrinth mit Hilfe verschiedener Lichtquellen - die dünnen Strahlen der Lampen an ihren Bergarbeiterhelmen, das blendende Rot einer Leuchtrakete oder, am wirkungsvollsten, das infrarote Licht einer Videokamera - in ein ständiges Halbdunkel, das nur einen flüchtigen Eindruck dessen erhaschen läßt, was jenseits unserer Wahrnehmung lauern könnte.

Nach und nach wird in den gespenstischen Schatten, die ihre Fackeln entlang den tropfenden Felswänden werfen, eine völlig neue Bedrohung erahnbar. Der plötzliche Wechsel zum Kampf auf Leben und Tod, der die Klaustrophobie als kleineres Übel erscheinen läßt, glückt Marshall meisterhaft, und auch das ewige Dilemma des Horrorgenres, wann und in welcher Form das Ungeheuer sich zeigt, ist damit gelöst: Sobald seine halbmenschlichen "Kriecher" einmal ins schummrige Licht vorgedrungen sind, nimmt das Unheil seinen Lauf. Bei diesem schaurige Finale, das Sarah als Wiedergängerin der blutgetränkten Sissy Spacek in Brian DePalmas "Carrie" (1976) inszeniert, bleiben zwar die in den ersten zwei Dritteln des Films so sorgfältig gezeichneten Figuren auf der Strecke, dafür kommen Splatterfreunde voll auf ihre Kosten.

Horrorstreifen sind die Sessel-Variante des Extremsports, ihr Sinn und Zweck erschöpft sich darin, einen Adrenalinstoß nach dem anderen zu versetzen, den Zuschauer von einem Schreck zum nächsten taumeln zu machen, um ihn schließlich hellwach und quicklebendig in den Alltag zu entlassen. Geläutert? Womöglich auch das. Souveräner als "The Descent" hat dies in letzter Zeit kaum ein Film geleistet.

Foto: Rebecca (S. Mulder) und ihre Schwester Sam (M. Buring)


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