© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/05 11. November 2005

Sehnsucht nach der nationalen Streitkraft
Clemens Ranges kritische Rückschau auf fünfzig Jahre Bundeswehr läßt Fragen offen / Die Rolle der Armee im Bündnis kommt zu kurz
Georg Meyer

Seit geraumer Zeit ist die fünfzigste Wiederkehr des Tages absehbar, an dem die ersten Freiwilligen der Streitkräfte (seit dem 6. März 1956 Bundeswehr genannt) der Bundesrepublik Deutschland ihre Ernennungsurkunden erhielten. Daß dieses Jubiläum auf verschiedene Weise schon vor dem offiziellen Datum, 12. November, in das allgemeine Bewußtsein gerückt wurde, war auch keine Überraschung. Fraglich war nur, wer als erster mit Bilanz und Ausblick die Ziellinie passieren würde.

Mit hohem Anspruch und im sperrigen Großformat - 31,5 cm Länge, 24 cm Breite - ist dies Clemens Range bereits Ende des letzten Jahres gelungen, der schon einige im Detail informative Veröffentlichungen über Bundeswehrthemen vorgelegt hat. Nun versucht er sich in im eigenen Vorwort - neben dem Gastvorwort des Generals a.D. Günther Kießling - selbst zuerkannter "kritischer Loyalität" an einer "ersten umfassenden, aktuellen und kritischen Dokumentation aller nennenswerten Ereignisse" (Klappentext) seit der Gründung der Bundeswehr.

Das Ergebnis ist enttäuschend. Grundsätzlich ist man dem Gegenstand seiner Darstellung zugetan. Aber sein betont konservativer, nationaler Standpunkt hindert ihn daran, das atlantische Bündnis in seiner umfassenden Bedeutung für die Gründung, die Existenz und die Bewährung der Bundeswehr bis 1989/90 wahrzunehmen. So erklärt sich seine Sympathie für das mit den Planungen der Dienststelle Blank unvereinbare "rein national ausgelegte Streitkräftekonzept" - eigentlich ein Verteidigungsmodell - des Obersten a.D. v. Bonin. Range bescheinigt ihm mit Recht Vaterlandsliebe, was der Rezensent nach einigen Begegnungen mit Bonin bekräftigen kann. Aber der Autor nimmt nicht zur Kenntnis, daß die seinerzeit aufsehenerregenden Überlegungen des "furchtlosen Preußen" pommerscher Herkunft sicherheitspolitisch gefährlich und militärisch unsinnig waren, wie ihm auch wohlwollende Kameraden vergeblich klarzumachen versuchten.

Entsprechend gerät ihm in der von ihm zusammengestellten holzschnittartigen Chronologie der fundamentale Wandel von der Bündnisarmee seit 1955/56 zur nunmehr eigenständigen Armee im Bündnis aus dem Blick, wenn er auch die Problematik der ersten Auslandseinsätze bei gleichzeitigem Umbau und Rückbau der Bundeswehr unter dem Diktat der Unterfinanzierung durchaus erkennt.

Viel Zustimmung wird Range für seine Betrachtungen zu den Themen "Vom Soldatsein - Berufung oder Job?" und "Innere Führung und Kameradschaft" finden. Hier beweist er gute Beobachtungsgabe und zeigt Verständnis für die verschiedenen Phasen der inneren Entwicklung der Bundeswehr. Allzu pauschal ist jedoch seine Behauptung, daß "die erste Bundeswehr-Führungsschicht" - wer ist gemeint? - "kaum Erfahrungen als Kompaniechefs und Bataillonskommandeure" besaß, "ein Manko für das Innere Gefüge". Dieser Vorwurf ist ungerecht, denkt man an so erfahrene Soldaten wie den ersten Kommandierenden General in Koblenz, Generalleutnant Freiherr v. Lüttwitz, oder Persönlichkeiten wie den Generalleutnant Wilhelm Meyer-Detring, den Brigadegeneral Curt v. Witzendorff, gar nicht zu reden von einigen Kommandeuren in der Gebirgsdivision und anderen Großverbänden.

Gelungene Bonmots oder Anekdoten erhellen schwierige Sachverhalte oft besser als lange Darlegungen aus Akten. Aber dergleichen Beispiele sollten dann auch stimmen. So wird zweimal eine angebliche Weisung Adenauers an den langjährigen Leiter der Hauptabteilung Administrative Angelegenheiten im Verteidigungsministerium, zuvor Abteilungsleiter Verwaltung, Ernst Wirmer, wiedergegeben. Wirmer gehörte schon seit Ende 1950 der Dienststelle Blank an. In seiner Eigenschaft als Leiter von deren Zentralabteilung hat er - dies wohl der Kern der vermeintlichen Worte Adenauers - nach eigener, von Bonin dem Rezensenten bestätigter Aussage, den 1952 zur Dienststelle stoßenden Bonin in Anspielung auf die eigenmächtige Kompetenzüberschreitung mit dem Satz empfangen, er, Wirmer, sei dazu da, "damit die Offiziere nicht wieder über die Hecken fressen".

Ähnlich mißverständlich steht es mit einer Äußerung General Baggers. So soll er gesagt haben, die Tradition gehöre in den Kühlschrank, später will er sie der Waschmaschine überantworten. Welches Haushaltgerät ist denn nun gemeint? Ungenau ist auch die Angabe, Aufgabe des Generals der Panzertruppe a.D. Gerhard Graf Schwerin sei die "Schaffung einer westdeutschen Bundespolizeitruppe" gewesen. Der Auftrag Schwerins war niemals eindeutig definiert. Er hat ihn sich in den wenigen Wochen seiner glücklosen Wirksamkeit selbst gesucht und dabei zum Beispiel über die Realisierung eines Verteidigungsbeitrages auf dem Umweg über zunächst paramilitärische Polizeiverbände nachgedacht. Eine "Bundespolizeitruppe", sprich der spätere Bundesgrenzschutz, ressortierte beim Innenministerium.

Die Ehrenerklärung Eisenhowers, daß der deutsche Soldat für seine Heimat "tapfer und anständig" gekämpft habe, wurde am 22. Januar 1951 gegenüber den Generalleutnanten a.D. Heusinger und Speidel abgegeben. Sie hatten auf eine solche Äußerung Eisenhowers hingewirkt, die sie als eine Voraussetzung für künftiges Mitwirken auf der Basis der Gleichberechtigung bei gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen ansahen. Der Bundeskanzler war bei dieser Gelegenheit zwar anwesend, aber eben nicht der Adressat, wie Range irrtümlich annimmt.

Wenn eingangs zutreffend bemerkt wird, am 12. November 1955 habe der Minister Blank - in dessen Kurzbiographie wird ihm der Dienstgrad Oberleutnant d.R. vorenthalten und der Einsatz als Führer einer Panzerjägerkompanie nicht erwähnt - die ersten 101 Freiwilligen ernannt, davon ein Dutzend in Uniform, ist die Bildlegende auf der nächsten Seite falsch datiert. Auf der Fotografie sind etwa 17 Uniformträger zu zählen, so daß hier ein späterer Ernennungstermin anzunehmen ist.

Die Beschreibung der Institution Generalinspekteur verkennt dieses Amt absichtsvoll. Range übersieht, daß weithin in der Welt der "militärische" Oberkommandierende als Konstruktion aus der Mode gekommen ist, wünscht sich aber dessenungeachtet eine Art "Oberbefehlshaber der Bundeswehr", der allerdings schon im Nato-Gefüge bis 1989/90 allenfalls eine dekorative Funktion gehabt hätte.

Als "Diener des Ministers" ist der Generalinspekteur jedoch ganz unzutreffend beschrieben, wenn nicht gar herabgesetzt. Er ist vielmehr oberster militärischer Berater der Regierung und erreicht, ausgewiesen durch fachliches Können, Überzeugungskraft, unaufdringliche Beharrlichkeit, politisches Verständnis und Glaubwürdigkeit mehr, als wenn er ungeduldig mit der Faust auf den Tisch schlägt, wie General a.D. de Maizière diese Position einmal definierte. Eine weitere sehr wichtige Aufgabe des Generalinspekteurs, auch wenn sie wenig öffentliche Aufmerksamkeit findet, ist die Vertretung der Bundeswehr in den internationalen Gremien, gemeinsam mit den Chefs der Stäbe der Gesamtstreitkräfte verbündeter Staaten.

Falsch ist auch die Angabe, General Heusinger sei für diese Aufgabe, die er dann seit Juni 1957 bis Februar 1961 für alle Nachfolger maßgebend und beispielhaft erfüllte, vom Personalgutachterausschuß als "ungeeignet" klassifiziert worden. Das bedauerliche Fehlurteil des PGA stützte sich auf eine im Herbst 1955 noch als wahrscheinlich angesehene herkömmliche Oberbefehlshaber-Lösung. Die Frage der "obersten militärischen Stellen", für die Heusinger wegen angeblicher "Truppenfremdheit" vorsorglich die Eignung abgesprochen wurde, war aber zu diesem Zeitpunkt weder im Hinblick auf das Bündnis noch auf die Befehls- und Kommandogewalt des Ministers endgültig geklärt.

Solche und noch andere Irrtümer des Verfassers - daß zum Beispiel die Kommandozeichen von Marine und Luftwaffe vertauscht sind, fällt dabei kaum ins Gewicht - wären vermeidbar gewesen, hätte Range die reichlich vorhandene Literatur zur Vor- und frühen Geschichte der Bundeswehr genutzt. Aber im Literaturverzeichnis fehlt sowohl der sachkundige Überblick von Dieter Krüger: "Das Amt Blank" (Freiburg 1993), wie Range auch die vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebene vierbändige, materialreiche und quellengesättigte Reihe "Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik" offenbar übersehen hat. Auch andere wichtige Veröffentlichungen wie von Donald Abenheim: "Bundeswehr und Tradition. Die Suche nach dem gültigen Erbe des deutschen Soldaten" (München 1989), Christian Millotat: "Das preußisch-deutsche Generalstabssystem. Wurzeln, Entwicklung, Fortwirken" (Zürich 2000), Sven Lange: "Der Fahneneid. Die Geschichte der Schwurverpflichtung im deutschen Militär" (Bremen 2002) oder Gerd Schultze-Rhonhof: "Wozu noch tapfer sein?" (Gräfelfing 1997) sucht man vergebens.

So pflegt Range unbeirrt - auch in der Dekonstruktion einiger Minister und Wehrbeauftragten - seine Vorurteile und entwertet damit den von ihm selbst hochgesteckten Anspruch, "objektiv und ungeschminkt Licht- und Schattenseiten einer bewegten Geschichte" nachzuzeichnen.

Clemens Range: Die geduldete Armee. 50 Jahre Bundeswehr. Verlag Translimes Media, Berlin 2004, 313 Seiten, gebunden, Abbildungen, 45 Euro

 

Dr. Georg Meyer arbeitete als Historiker beim Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA). 2001 veröffentlichte er im Verlag Mittler & Sohn die Biographie von Adolf Heusinger.

Foto: US-Generalstabschef Maxwell D. Taylor dankt Bundeswehroffizier, Bonn 1959: Die Nato unterschlagen


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen