© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/05 11. November 2005

Zurück in die Sowjetunion: Revisionismus ist allmächtig, weil er wahr ist
Stalin schreibt Geschichte
Ekkehard Schultz

Am 4.November 2005, dem erstmals begangenen neuen Nationalfeiertag Rußlands, welcher der "Einheit des Volkes" gewidmet ist, demonstrierten russische Nationalisten vor der polnischen Botschaft in Moskau und verbreiteten die aus Stalinzeiten stammende Geschichtslüge, der- zufolge für die Erschießung Tausender polnischer Offiziere in Katyn 1940 nicht die Sowjetunion, sondern Hitlerdeutschland verantwortlich sei. Daß solche Geschichtsbilder heute wieder modern sind, verwundert nicht wirklich. So heißt es etwa auch: "Die Drohung mit einem sowjetischen Raketenangriff hat ein Einlenken der Westmächte in den Krisensituationen von 1956 (Volksaufstand in Ungarn) und 1961 (Bau der Berliner Mauer) bewirkt". Oder: "Nur die Möglichkeit des Einsatzes einer sowjetischen Atombombe hat die Welt 1962 (Kubakrise) vor einem Krieg bewahrt". - "Die Hexenjagd gegen amerikanische Kommunisten in den Jahren 1948-1954 war das Anzeichen der Vorbereitung von bewaffneten Konflikten gegen die Sowjetunion und die osteuropäischen Länder." - Solche und ähnliche Sätze, die eine große Nähe zu einstigen sowjetischen Geschichtsdarstellungen erkennen lassen, haben neuerdings verstärkt Eingang in neue russische Lehrbücher für Schule und Universität gefunden.

Zu diesem Resultat kommt der in Deutschland lehrende Kommunismusforscher Jan Foitzik nach der Auswertung von 15 russischen Schul- und Studienbüchern, die in den Jahren 1999 bis 2004 herausgegeben wurden (Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2005, Aufbau Verlag, Berlin 2005). Foitzik macht für diese Entwicklung die heute in Rußland führende politischen Klasse verantwortlich, die Geschichte weniger als kritische Wissenschaft denn als Mittel zur Wiedererlangung eines einheitlichen nationalen Bewußtseins betrachtet. So erinnerte Staatspräsident Wladimir Putin in einer Rede Ende 2003 die russischen Historiker an ihre "vaterländischen Pflichten" und sprach sich gegen eine überwiegend "negative Interpretation der Vergangenheit" aus. Fast die gleichen Worte werden im Vorwort des im Jahr 2004 erschienenen Lehrbuches "Geschichte Rußlands von der ältesten Zeit bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts" von Michail M. Gorinow verwendet. Dort heißt es: "Die Gesellschaft ist müde von der Masse der negativen Information."

Bereits 1993 hatten russische Sicherheitsexperten kritisiert, daß der "Mangel einer philosophischen Konzeption der Geschichte Rußlands" auch zum "Mangel an Stabilität" in innen- und außenpolitischen Belangen des Landes beigetragen habe, und staatliche Maßnahmen zur Abhilfe gefordert. So bemühte sich Putin von Beginn seiner Amtszeit an, die Resultate der unter Gorbatschow begonnenen Bildungsreform durch die Aufstellung eines "Bildungsplanes", der "neue Prioritäten" setzen sollte, teilweise zu revidieren. Das jüngste Resultat dieser Entwicklung stellt das neue Russische Archivgesetz vom 22. Oktober 2004 dar. Darin wird etwa das in Paragraph 25 Absatz 1 enthaltene grundsätzliche "Recht auf freie Dokumentensuche" im Absatz 2 sofort wieder durch die Gesetzgebung über Staats- und andere Geheimnisse, die unter anderem "besonders wertvolle" und "in einem schlechten physischen Zustand" befindliche Dokumente betrifft, erheblich eingeschränkt. Foitzik sieht damit lediglich einen Zustand bestätigt, der auch in der Liberalisierungsphase Mitte der neunziger Jahre nie im Grundsatz überwunden werden konnte: "Der russische Staat trat das Aktenerbe der früheren Staatspartei an. Diese Quellen sprudeln jedoch nicht. Historiographischer Fortschritt findet nur im Rahmen des geltenden Rechts statt, und mehr als ein Blick durch das Schlüsselloch, in dem der Schlüssel steckt, ist nicht möglich."

Das Resultat sei eine "selbstbezogene Vergangenheitserbauung". Die am eigenen Volk ohne jeden Zweifel durch äußere Gegner begangenen Verbrechen werden dabei in den Mittelpunkt gestellt und oft auf problematische - weil durch keine konkreten Fakten gedeckte - Weise vergrößert. So wird ohne Nachweis die Zahl der im "Großen Vaterländischen Krieg" ums Leben gekommenen Soldaten und Zivilisten von 27 Millionen (Ära Gorbatschow) auf mittlerweile 56 Millionen erhöht. Dies erklärt zwar den statistisch nachweisbaren Bevölkerungsverlust zwischen den Zählungen von 1939 und 1959, dürfte allerdings einen erheblichen Teil derjenigen einschließen, die durch den kommunistischen Terror im eigenen Land ums Leben kamen.

Die Verbrechen der Moskauer Führung und der nach ihrer Weisung handelnden lokalen Exekutoren werden dagegen in den Schatten gedrängt. Selbst die Mängel des eigenen Planwirtschaftssystems werden in den Lehrbüchern im Regelfall auf "äußere" Ursachen zurückgeführt: So sei die Hungersnot von 1946/47 in weiten Teilen des Sowjetreiches, die viele Hunderttausende das Leben kostete, auf die Belieferung "der befreundeten Regime der osteuropäischen Länder" zurückzuführen. Tatsächlich hatte die Sowjetunion aus ideologisch-strategischen Gründen jedoch westliche Hilfslieferungen für das eigene Volk abgelehnt. Die Verantwortung für den Beginn des Kalten Krieges wird in mehreren Lehrbüchern undifferenziert den einstigen westlichen Verbündeten angelastet. Der Anteil des sowjetischen Diktators Stalin an dieser Entwicklung wird dagegen verschweigen.

Bild: Stalin-Büste in Moskau: Geschichtspolitischer Rückwärtsgang


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