© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/05 18. November 2005

Toleranz und Ignoranz
Über die Grenzen von multikulturellen Gesellschaften wird nicht debattiert
Jerker Spits

Die Toleranz unserer liberalen Demokratie grenzt oft an Ignoranz. Sie kommt eher einer passiven Duldung als einem Akzeptieren des Anders-Seins des Anderen gleich. Sie grenzt deshalb an Ignoranz. Man will keine Energie darauf verschwenden, sich über den Lebenswandel anderer Leute zu empören - bis der Ernstfall einer brennenden Parallelgesellschaft oder eines politischen Mordes eintritt. Deutschland sollte die tiefe Krise der niederländischen und französischen Integrationspolitik genau zur Kenntnis nehmen. Sonst könnte sie ein übler Vorgeschmack sein auf die Probleme, denen sich auch deutsche Politiker in Zukunft zu stellen haben.

In den Niederlanden wurde der Mord am Filmregisseur Theo van Gogh als Angriff auf die Toleranz betrachtet. Auch der Politiker Pim Fortuyn starb nach Ansicht vieler Niederländer als Mann des freien Wortes. Die Helden des Landes sind für viele niederländische Bürger nicht länger die Prediger einer passiven Duldung, sondern die Provokateure, die gegen politische Korrektheit zu Felde ziehen und gegen das illusionäre Modell einer multikulturellen Gesellschaft protestieren.

Fortuyn präsentierte sich erfolgreich als unabhängiger Neuling, der sich von der etablierten, konsensorientierten Politik verabschiedet hatte - bis sechs Kugeln ihm das Leben nahmen. Zuvor war deutlich geworden, daß die niederländische Haltung, gesellschaftlichen Konflikte auszuweichen oder sie moralisierend zu verschleiern, zunehmend in jenem Unfrieden endete, den man dadurch vermeiden wollte. Van Gogh wollte mit seinem Film "Submission", für den die islamkritische Politikerin Ayaan Hirsi Ali das Drehbuch schrieb, eine Diskussion über die Unterdrückung der Frau in der islamischen Welt lostreten - bis er in der Hauptstadt Amsterdam von einem radikalen Islamisten ermordet wurde.

Aber nicht nur radikale Islamisten bedrohen in unserer westlichen Demokratie Freiheit und Sicherheit. Es dürften vor allem die Unentschlossenheit und Unsicherheit unserer heutigen westlichen Gesellschaft selbst sowie ihrer politischen Eliten sein, die für die heutige Gesellschaft die größte Gefahr darstellen. Wer sich nicht an seine eigene Vergangenheit erinnert, wer nicht weiß, für welche kulturellen, politischen und moralischen Überzeugungen er steht, stellt für seine Feinde ein hilfloses Opfer dar.

Wenn ein Staat eine laxe Immigrations- und Integrationspolitik betreibt, die massiven Probleme mit den schon auf seinem Territorium lebenden Immigranten ignoriert und Selbstverantwortung durch einen freigebigen Sozialstaat untergräbt, wird er eines Tages mit den Folgen konfrontiert. Die jüngsten Ereignisse in Frankreich geben den Kritikern der multikulturellen Gesellschaft recht. Ein Staat, der darauf verzichtet, Werte und Lebensregeln zu vermitteln, und Neulinge durch ein mit viel Geld ausgestattetes soziales Netz abspeist, schafft vor allem Unzufriedenheit und Frustration. Es bilden sich Parallelgesellschaften, die später rebellieren.

Ein extremes Beispiel für die gefährliche Mischung aus sozialem Abstieg und Radikalisierung bietet auch Mohammed B., der Mörder von Theo van Gogh. Er lebte von der Sozialhilfe des niederländischen Staates, den er gleichwohl verachtete, dessen Autorität er im Gerichtssaal nicht anerkennen wollte.

Immer mehr europäische Intellektuelle kritisieren das Konzept der multikulturellen Gesellschaft und rufen Politiker zu einem Abschied von der jahrzehntelangen laxen Integrationspolitik auf. In Deutschland aber wird es nach wie vor als Mißklang empfunden, wenn ein Politiker die Anpassung der Migranten an die dominante Kultur fordert. Eine wirkliche, offene Debatte über die Grenzen der multikulturellen Gesellschaft findet nicht statt. Dabei ist die Lage in vielen deutschen Städten mit der Situation in Frankreich durchaus vergleichbar.

Auch in Deutschland haben sich in den städtischen Problemvierteln Subkulturen etabliert, in denen Migrantengruppen fast nur unter sich leben. In diesen sich abschottenden Parallelgesellschaften können sich Schichten bilden, die grundlegende westliche Normen und Werten nicht länger einhalten und die Gesellschaft, in der sie leben, als ihren größten Feind betrachten. Durch den Fall Hans-Peter Raddatz wissen auch die Deutschen, daß ein Kritiker des Islam und seiner politischen Rolle in Europa sich gefährliche Feinde schaffen kann.

Derweil ist in den Niederlanden die Debatte um die multikulturelle Gesellschaft keineswegs verstummt. Trotz Morddrohungen weigert sich die rechtsliberale Parlamentsabgeordnete Ayaan Hirsi Ali, ihre Kritik zu mildern oder eine Zeitlang zu schweigen. Hirsi Ali ist eine gebildete Akademikerin, die bei dem renommierten Professor Paul Cliteur an der Universität Leiden studierte. Daß auch diese Frau in Interviews mit Medien im In- und Ausland das Wort "Toleranz" mit einem nahezu verächtlichen Unterton ausspricht, sollte zu denken geben. Europas Intellektuellen und Politiker täten gut daran, auf die Worte dieser bedachtsamen und mutigen Frau zu achten: "Schluß mit der falschen Toleranz, mit einem Wegsehen im Namen eines Multikulturalismus, wenn dabei die Werte der Demokratie unter die Räder kommen. Das hat mit Respekt vor anderen Kulturen nichts zu tun."


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