© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/05 18. November 2005

"Deutschland fehlt die Staatsräson"
Der Journalist Heinz Klaus Mertes über die Mängel des Koalitionsvertrages und den Systemfehler des deutschen Politikverständnisses
Moritz Schwarz

Herr Mertes, nun ist der Koalitionsvertrag unter Dach und Fach. Können die Deutschen damit zufrieden sein?

Mertes: Wohl kaum, aber zu beobachten ist, daß bei den Bürgern schon ein Gefühl der Erlösung vorherrscht, daß das Koalitionsgewürge immerhin zu einem Abschluß gekommen ist.

Eigentlich eine vernichtende Feststellung.

Mertes: Im Grunde handelt es sich bei dem derzeit zur Schau getragenen Stolz der Koalitionspolitiker vor allem um mediale Entspannungsübungen. Mit dem Ernst der Situation hat das nichts zu tun. Es tritt zurück, daß Sinn und Ziel der Neuwahlen nicht die Bildung der Großen Koalition, sondern die Behebung der Probleme des Landes war.

Die Union hatte vor der Wahl einen Aufbruch versprochen.

Mertes: Mehr als Notoperationen sind davon nicht geblieben. Aber seien wir fair: Natürlich sind die ursprünglichen Programmaussagen in einer Großen Koalition der Gegensätzlichkeiten nicht zu verwirklichen. Allerdings hatte Angela Merkel vor der Wahl auch immer wieder betont, daß es genau deshalb keine Große Koalition geben werde.

Die Union hat gegen das Reform-Gewurstel der Regierung Schröder den "Aufbruch" gesetzt. Nun wird unter einer CDU-Kanzlerin weitergewurstelt.

Mertes: Man strengt sich ja an, die Auftaktstrapazen sind den Beteiligten sichtbar ins Gesicht geschrieben; aber man tut dies unter unproduktiven Bedingungen: Einigungszwang statt Sachlösung. Daran ist die Union keineswegs unschuldig, anders als sie gerne mit Verweis auf das Wahlergebnis ablenkt. Denn erstens hat sie ihr schlechtes Ergebnis selbst verursacht, und zweitens wäre dann die richtige und mutige Konsequenz gewesen, Neuwahlen anzustreben, weil mit diesem Wahlergebnis der angesagte Neuanfang nicht möglich ist. Die Bürger hätten sich dann schon besonnen.

Was konkret bemängeln Sie denn am Koali-tionsvertrag?

Mertes: Skizziert er eine nachhaltige Politik? Für die Problembewältigung von heute und für nachfolgende Generationen? Für eine älter werdende Gesellschaft? Für eine liberale, wettbewerbsorientierte Wirtschaftsordnung? In keinem Fall kann man mit einem klaren "Ja" antworten. Die Abmachungen sind geprägt von Widersprüchlichkeiten. Nehmen Sie zum Beispiel das für 2007 versprochene Elterngeld, dem aber andererseits mit der Streichung der Eigenheimzulage oder der Erhöhung der Mehrwertsteuer ungünstige Maßnahmen gerade für Familien gegenüberstehen. Oder: Einerseits wird unisono die private Altersvorsorge propagiert, andererseits werden nun Kapitaleinkünfte aus Aktienfonds mit jahrzehntelangen Ansparleistungen mit zwanzig Prozent besteuert. Kein vorsorgebewußter Bürger kann überhaupt noch sein erspartes Kapital anlegen, ohne daß die staatlich verordnete Schwindsucht greift. Dieses Drehen an gegeneinanderwirkenden Stellschrauben ist nicht nur kontraproduktiv, es offenbart auch, daß dies keine Politik aus einem Guß ist. Das sind Fallen für die Lebensplanung von Millionen gerade auch junger Menschen.

Sie meinen, es fehlt die programmatische Leitidee dahinter?

Mertes: Es fehlt die ordnungspolitische Stimmigkeit, was dann auch die volkswirtschaftliche Rechnung nicht aufgehen läßt. Die soziale Marktwirtschaft eines Ludwig Erhards bot diese Stimmigkeit. Solche Leitlinien sind zu erneuern, nur dann werden die Bürger Vertrauen in die Politik als Zukunftsgestalterin haben, was nicht nur für das Durchhalten der Reformen, sondern auch für den Erhalt der politischen Stabilität unverzichtbar ist.

Niedersachsens Ministerpräsident Wulff hat die Union in einer internen Sitzung mit Verweis auf das Scheitern der Brüningschen Sparpolitik von 1930 daran erinnert, daß diesmal den Menschen "das Licht am Ende des Tunnels gezeigt werden muß".

Mertes: Man muß erst einmal signalisieren, in welcher Richtung man aus dem Tunnel herauskommt. Und da gibt es in dem Kompromißknäuel eben widersprüchliche Richtungsanzeigen. Im Wahlkampf wurde zum Beispiel die Vereinfachung des Steuerrechts als die entscheidende Vorraussetzung für die Souveränität der Bürger dargestellt. Tatsächlich wird das Steuerrecht nun noch komplizierter und obendrein aber auch noch die steuerliche Abschreibungsmöglichkeit für den Steuerberater abgeschafft, ohne den man künftig erst recht nicht mehr auskommt. All dies wird in nächster Zeit, wenn es an die Umsetzung der Koalitionsvereinbarungen geht, von den Bürgern "entdeckt" werden und zunächst zur Enttäuschung, dann zur Entfremdung von der Politik und der sie tragenden Parteien führen.

Um eine solche Entwicklung zu verhindern, haben die Koalitionäre bereits angekündigt, einen Teil der Arbeit quasi "unterwegs" nachholen zu wollen. Themen wie die Atom- oder die Gesundheitspolitik, die Pflegereform und die Regelung des Niedriglohnsektors wurden gleich ganz auf das Jahr 2006 verschoben.

Mertes: Natürlich können wir alle nur hoffen, daß im alltäglichen Fußkampf der Politik noch Boden gutgemacht wird. Doch erfahrungsgemäß werden bei dieser Strategie gewaltige Energien für winzige Fortschritte benötigt. Außerdem kann der Bürger schließlich nicht mehr erkennen, was ursprüngliches Ziel war und was Ergebnis ist. In der Gesundheitspolitik ist die Verbreiterung des Zeitkorridors allerdings zu begrüßen, weil sich damit die Chance verbessert, von der Modellhuberei "Bürgerversicherung versus Prämienpauschale" herunterzukommen.

Immerhin gibt es nach zwei Jahren der Blockade einen ersten Erfolg mit der Föderalismusreform. Künftig sollen die Entscheidungskompetenzen von Bund und Ländern viel klarer voneinander getrennt sein.

Mertes: Nun ja, diese Reformschritte, so sinnvoll sie sein mögen, sind natürlich auch wohlfeil. Denn sie kosten nichts, vermitteln aber das Bild eines Aufbruchs zu neuen Ufern. Und trotzdem wird ein Schüler aus Bayern nach wie vor nicht ohne Probleme in das Schulsystem Berlins wechseln können oder umgekehrt. Im Zeitalter mobiler Berufsbiografien ein wahrer Greuel des "Standorts D". Die Politik scheint zunehmend von solchen Spiegelfechterein zu leben. Saarlands Ministerpräsident Müller äußerte nach Abschluß des Koalitionsvertrages stolz, das Ziel sei erfüllt, die Sozialabgaben stabil unter vierzig Prozent zu halten. Eigentlich eine Tatarennachricht, denn das sind sie schon heute und müßten deutlich weiter herunter. Ähnlich ist es mit dem Bundeshaushalt: Als Perspektive und Erfolg rühmt man sich, daß der Haushalt zwar nicht 2006, aber 2007 verfassungsgemäß sein werde. Das ist Dialektik, die vernebelt.

Die Wiedererlangung der Handlungsfähigkeit scheint inzwischen zum Selbstzweck geworden zu sein. Eine Vorstellung dessen, was eigentlich Aufgabe der Politik ist, nämlich auf der Grundlage von Handlungsfähigkeit zu gestalten, scheint insbesondere bei der Union völlig in Vergessenheit geraten zu sein.

Mertes: Ich bin überzeugt davon, daß dieser intellektuelle und programmatische Mangel bei der Union auch mitverantwortlich für ihr miserables Abschneiden bei der Wahl war. Im Wahlkampf haben wir doch keinen Satz gehört, der nicht zuvor schon zigmal zu vernehmen war. Diese Monotonie - die Verwendung der immer gleichen Schablonen - ist nicht zuletzt ein Zeichen dafür, daß das ordnungspolitische Gesamtgefüge fehlt, mit dem ein politisches Programm vitale Überzeugungskraft gewinnt. Die Union hat verloren, weil sie, je näher der Wahltag rückte, immer mehr an programmatischer Luftverdünnung litt. Die Neubeatmung in der dicken Luft der Großen Koalition wird schwerlich gelingen.

Statt dessen erscheint derzeit die Frage nach der Mehrwertsteuer als Mittelpunkt der Reformpolitik.

Mertes: Eine Einzelfrage, die zur Schicksalsfrage der Nation hochstilisiert wird. Morgen wird eine andere deutsche Introvertiertheit die Gemüter der Mediengesellschaft beschäftigen. Als ob Politik für Deutschland nicht mehr wäre. Ich halte es zum Beispiel für ein ganz großes Versäumnis, daß in dem Koalitionspapier die außenpolitischen Maximen kaum der Betrachtung wert sind. Doch auch hier müssen die Deutschen doch wissen, wo das Land steht und wohin die Reise geht. Lassen Sie es zum Beispiel nur zu einer Krise in Moskau kommen, dann werden die Deutschen sehen, daß all diese Diskussionen um Mehrwert- oder Reichensteuer in Wahrheit spielzeugklein sind. Dann wollen sie wissen, wo unsere verläßlichen Freunde sind. Oder der EU-Beitritt der Türkei - eine epochale wirtschaftliche, kulturelle und sicherheitspolitische Weichenstellung - wird einfach ausgeblendet. Der Anspruch, Deutschland "zukunfts- und generationenfest" machen zu wollen, ohne Deutschland politisch in der Welt zu positionieren, also den strategischen Rahmen der Außenpolitik erkennbar werden zu lassen, ist hohl.

Der Mangel an authentischen Überzeugungen der Politik - und deren angemessene Berücksichtigung im Koalitionsvertrag - bezieht sich aber doch nicht nur auf die Außenpolitik?

Mertes: Nein, auch auf anderen Feldern wird der Anspruch, dem Lande wieder Richtung zu geben, verfehlt - zumindest in den Koalitionspapieren. Wir haben großen Nachholbedarf darin, die Interessenlinien der deutschen Politik zu definieren, wenn man so will, die Staatsräson im Inneren und Äußeren. Ob in Frankreich, England, Polen und zahlreichen anderen Ländern - sind diese Räsonlinien vorhanden und bilden einen Grundkonsens. Uns fehlt diese Art von politischem Credo weithin. Diese Orientierungslosigkeit verschafft uns entscheidende strategische Nachteile.

Woran liegt das?

Mertes: Weil wir in Deutschland gewohnt sind, Politik nur noch für die Gegenwart zu machen. Die "Generationenbetrachtung" aber, die bei uns wohl auch aus historischen Gründen abhanden gekommen ist, mit einer weiten Perspektive sowohl zurück wie auch nach vorne, läßt erst diese Interessenlinien sichtbar werden. Es unterbleibt zudem die Frage, wo denn mit Blick auf Deutschland das Gemeinsame ist und was die gemeinsame politische Anstrengung von heute lohnt, auch wenn die Ergebnisse erst für nachfolgende Generationen zum Tragen kommen. Hier spielt auch die "Versingelung" unserer Gesellschaft eine fatale Rolle.

Mit der Folge?

Mertes: Pragmatische Wechselhaftigkeit, Opportunitätsdenken. Es ist doch bestürzend, wie gleich in den ersten Koalitionsrunden programmatische Eckpfeiler ohne Federlesens geräumt wurden. Und die Mediengesellschaft applaudiert diese aktuellen Beliebigkeit, die man gut und gerne auch als modischen Nihilismus bezeichnen kann.

Was meinen Sie damit konkret?

Mertes: Vor der Wahl ist man mit aller Vehemenz gegen die Mehrwertsteuererhöhung - in diesem Fall die SPD -, nach der Wahl aber wird sie nicht nur erhöht, und das auch noch um drei statt nur um zwei Prozentpunkte, sondern es wird damit auch noch eine weitere Steuer, die "Reichensteuer", begründet. Das ist doch ein absurder Vorgang. Ganz abgesehen davon, daß zweimal Unsinn noch keinen Sinn ergibt, sondern lediglich die Kumulation von Fragwürdigkeiten.

Die Frage ist, wird die Koalition überhaupt so lange halten, daß all diese Unzulänglichkeiten und Widersprüche ihre von Ihnen prognostizierten negativen Auswirkungen entfalten können? 57 Prozent der Deutschen meinen laut einer Infratest-Umfrage: "Nein".

Mertes: Ich bin da ebenfalls sehr skeptisch. Vor allem die Union hat sich in eine gefährliche Situation manövriert, denn die SPD kann angesichts der Tatsache, daß es in Deutschland nunmehr eine strukturelle Mehrheit links von der Mitte gibt, die Koalition jederzeit "hochgehen lassen" und als Rot-Rot-Grün weiterregieren. Deshalb kommt es in der SPD nicht nur auf die erste Reihe, Müntefering und Platzeck, an. Die Union trägt die Handschellen einer strukturellen parlamentarischen Minderheit. Sie wäre gut beraten, genau zu beobachten, was sich dort in der zweiten Reihe tut, von wo nämlich - bei geeignetem Anlaß - die Forderung nach "Überwindung" dieser Koalition am ehesten ausgehen wird.

Ein Anlaß wie zum Beispiel?

Mertes: Dieser muß nicht notwendigerweise aus dem Feld der strittigen Themen in Wirtschaft- und Sozialpolitik kommen. Vorstellbar ist auch ein Impuls aus dem vernachlässigten Bereich der Außenpolitik, wo etwa unsere Auslandseinsätze ein fast völlig verdrängtes Kapitel der deutschen Politik darstellen, wenn nicht gerade ein Attentat an den blutigen Ernst für deutsche Mitbürger in Uniform erinnert. Eine Zuspitzung der internationalen Lage à la Irak könnte ebenso zum Bruch führen. Im Grunde gibt es solche Bruchlinien auf fast jedem Politikfeld: Die Schnittstelle wird 2007 sein. Denn ab da wird das Bedürfnis der Koalitionspartner, nach einem "Exit" zu suchen, um sich für die Bundestagswahl 2009 zu positionieren, kaum zu bremsen sein. Aber selbst wenn es nicht zum Bruch kommt, ist von da an nicht mehr mit einer konstruktiven Politik zu rechnen. Das Zeitfenster für echte Weichenstellungen ist also ausgesprochen klein: Nach dem Kraftakt der Koalitionsverhandlungen ist nun bis ins neue Jahr hinein nicht mehr viel zu erwarten. Danach gilt es dann, etwa bis Ostern, erst einmal das Regieren "richtig zu erlernen". Danach stehen sechs Wochen bis zur Sommerpause 2006 und die Zeit danach bis Mitte 2007 zur Verfügung, bevor das erwähnte Auseinanderdriften der Koalitionäre unter der Gravitation der kommenden Bundestagswahl beginnt. Was bis dahin nicht geschafft ist, bleibt voraussichtlich bis nach der Wahl 2009 liegen. Nicht die besten Aussichten für nachhaltige Politik in und für Deutschland.

 

Heinz Klaus Mertes: Der Wirtschafts- und Politikjournalist (Manager Magazin, Welt am Sonntag) wurde als TV-Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks bundesweit bekannt, wo er das ARD-Magazin Report München moderierte sowie zahlreiche weitere aktuelle politische Programme verantwortete (Plusminus, ARD-Mittagsmagazin). 1993 wechselte Mertes als Programmdirektor zu Sat 1. Heute ist er als Geschäftsführer seiner beiden Medienunternehmen M Com TV und Forte TV in München und Berlin tätig. Geboren wurde er 1942 in Prüm in der Eifel.

Kontakt und Informationen: M Com TV, Sudetendeutschestraße 31A, 80937 München, Internet: www.hkmertes.de 

 

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