© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/05 18. November 2005

CD: Klassik
Überholspur
Andreas Strittmatter

Mit manchen Aufnahmen würde man sich gerne in eine Zeitmaschine setzen und den Komponisten fragen, was er von dieser oder jener Interpretation halte. Die "Traviata" der jüngsten Salzburger Festspiele, nicht zuletzt als "Event" rund um die Sopranistin Anna Netrebko (sekundiert von Rolando Villazón als Alfredo Germont und Thomas Hampson als dessen Vater) veranstaltet, ist so ein Fall. Der gesamte Abend ist zwischenzeitlich als Zusammenschnitt mehrerer Aufführungen auf CD erschienen - und ein unter dem Titel "Violetta" gleichfalls veröffentlichter Auszug tummelt sich derweil immerhin in den unteren Rängen von Bestenlisten, auf denen Sopranistinnen sonst eher selten reüssieren.

Trotzdem würde man Giuseppe Verdi nicht zuerst bemühen mögen, um des Meisters Meinung zu Netrebko einzuholen. Da über weite Strecken Carlo Rizzi die Wiener Philharmoniker quasi auf der Überholspur durch die Partitur jagt, würde man von Maestro Verdi anfangs gerne wissen, was er von Maestro Rizzis rasanten Tempi halte. Den Leerlauf der Spaßgesellschaft, in der sich Netrebkos Violetta im ersten und dritten Akt bewegt, trifft Rizzi mit seinem atemlosen Schlag aus heutiger Perspektive fabelhaft. Die Kehrseite solch musikalischer "Inszenierung" liegt im Ermüdungsfaktor, der sich spätestens bei mehrmaligem Anhören einstellt - irgendwann sehnt man sich nach einem Dirigenten, der die ganze Sache doch etwas gemächlicher anginge.

Ferner fällt so manche Nuance der Partitur unter den Tisch, was auch nicht weiter wundert, wenn die Orchestersenke sozusagen zum Schützengraben mutiert, aus dem Triller und Triolen, Achtel und Sechzehntel in extrem hohen (Schuß-)Kadenzen abgefeuert werden. Und da sich auch die wachsende Zuneigung zwischen Violetta und Alfredo als stürmisch drängend geriert, ist das Ohr fast dankbar, wenn Thomas Hampson als Germont senior die Szene betritt und, baritonalen Wohlklang verströmend, für Ruhe im orchestral-vokalen Getümmel sorgt.

Als ausgesprochenem Philosophen unter den Sängern gelingt ihm - auch auf der Klangbühne - die überzeugendste Rollenpsychologie innerhalb der illustren Besetzungstrias. Rolando Villazón legt seinen Alfredo ungestüm an - bei allem Streben nach eleganter Phrasierung (schön etwa dem Duett "Un di felice" abzulauschen) bleibt somit ein unerfüllter Rest in punkto lyrischer Verinnerlichung: Seine vokale Unschuld als jugendlich-schüchterner Liebhaber hat Villazón spätestens im anfänglichen Trinklied bereits voll und ganz verloren.

Und Netrebko? Ihr gelingt ohne Zweifel ein schallplattenwürdiges Rollenporträt, gelingen mit wunderbar dunkel schimmerndem Timbre mannigfache Höhepunkte. So packt sie die Koloraturen in Violettas großem Finale des ersten Aktes weitestgehend mühelos, Verdis verfeinernden Zierrat in dieser Passage (Vorhalte und Triller) spart sie sich, wie die meisten ihrer Kolleginnen, aber leider auch.

Netrebko kostet die Gefühlswelten bis in die Extreme aus, ohne ihre Traviata als banale Tragödin aus der Vorstadtklitsche jemals zu Fall zu bringen. Wirklich eindrücklich manifestiert sich dies bei der Gestaltung der Todesszene, die das russische Jungtalent nicht als billiges Melodram, sondern auf der von Verdi vorgeschriebenen Gesangslinie formt: Nur wenigen Sopranistinnen glückt es so rundum, diesen Orgasmus des Lebens in hora mortis überzeugend zu beglaubigen, der Violetta den Blick in eine andere Welt zu öffnen scheint, während um sie herum alles in Verzweiflung und Orchesterdonner zusammenbricht. Diese Szene dürfte zu jenen gehören, die Verdi - wäre es denn möglich, den Maestro zu befragen - in dieser "Traviata" besonders gefallen könnten ...


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