© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/05 18. November 2005

Der Müll mehrt sich
Bürgerkrieg: Ein Essay von Hans Magnus Enzensberger
Michael Wiesberg

Ebenso "absurd" wie "dramatisch" sei die Behauptung von Hans Magnus Enzensberger, auch in unserem Land "schwele bereits ein 'molekularer Bürgerkrieg'", stellte 1996 Richard Herzinger in einem Artikel für die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit fest. Enzensbergers Forderung, man müsse sich zuerst um diesen "imaginären Bürgerkrieg" im eigenen Lande kümmern, bevor man die "Schlächtereien im Ausland" in den Blick nimmt, sei für die "hiesige Öffentlichkeit" angeblich ein willkommenes Alibi für den Fatalismus gewesen, mit dem man "die Massaker an Abertausenden von Zivilisten (wie zum Beispiel in Srebrenica, d. Verf.) hinnahm".

Der vermeintliche "intellektuelle und moralische Blackout", auf den Herzinger hier anspielte, ist die kleine Enzensberger-Schrift "Aussichten auf den Bürgerkrieg" (Frankfurt/Main 1993), die sich zwölf Jahre nach ihrem Erscheinen als luzide Vorwegnahme jener Zustände lesen läßt, die Frankreich heute erschüttern. Mit Erstaunen stößt man hier zum Beispiel auf die Auskunft eines französischen Sozialarbeiters aus der Banlieue von Paris: "Sie haben schon alles kaputtgemacht, die Briefkästen, die Türen, die Treppenhäuser. Die Poliklinik, wo ihre kleinen Brüder und Schwestern gratis behandelt werden, haben sie demoliert und geplündert. Sie erkennen keinerlei Regeln an (...) Wenn man ihnen eine Fußballplatz einrichtet, sägen sie die Torpfosten ab."

Kennzeichen des "molekularen Bürgerkriegs" seien nach Enzensberger "der autistische Charakter der Täter" bzw. ihre Unfähigkeit, "zwischen Zerstörung und Selbstzerstörung" zu unterscheiden. Der "molekulare Bürgerkrieg", von dem Enzensberger spricht, beginnt zunächst "unmerklich"; kündigt sich durch Phänomene an, die auch jeder Bewohner einer größeren deutschen Stadt zur Genüge kennt und die gerne als "Vandalismus" charakterisiert werden: "Allmählich mehrt sich der Müll am Straßenrand. Im Park häufen sich Spritzen und zerbrochene Bierflaschen. An dem Wänden tauchen überall monotone Graffiti auf, deren einzige Botschaft der Autismus ist: Sie beschwören ein Ich, das nicht mehr vorhanden ist."

Immer weiter dreht sich die Schraube der Zerstörung und Selbstzerstörung: "Im Schulzimmer werden die Möbel zertrümmert, in den Vorgärten stinkt es nach Scheiße und Urin. Es handelt sich um winzige Kriegserklärungen, die der erfahrene Städtebewohner zu deuten weiß."

Schließlich folgen deutlichere Signale: "Reifen werden zerstochen, Nottelefone mit der Drahtschere unbrauchbar gemacht, Autos angezündet. In spontanen Handlungen drückt sich die Wut auf das Unbeschädigte aus, der Haß auf alles, was funktioniert, der mit dem Selbsthaß ein unauflösliches Amalgam bildet." Die Jugendlichen, so Enzensberger, seien die "Vorhut des Bürgerkriegs". Nur Zeit-Geister wie Richard Herzinger werden Enzensbergers Beobachtungen weiter als "absurd" abtun können.

Nicht zu Unrecht wies der freie Filmjournalist Rüdiger Suchsland dieser Tage auf den Internetseiten von Telepolis darauf hin, daß die sich "zum Flächenbrand steigernden Unruhen" in Frankreich ziemlich genau "den von Clausewitz beschriebenen Taktiken des Partisanen- und Guerillakriegs" entsprächen. Ohne Aussicht auf einen militärischen Sieg besteht ihre Chance darin, "die Kosten für die Gegenseite so zu erhöhen, daß deren Kompromißbereitschaft wächst". Die technischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts in der Kommunikations- und Fortbewegungstechnik begünstigten nach Suchsland den Partisanenkrieg.

Tatsächlich koordinieren sich die häufig in kleinen Gruppen operierenden jugendlichen Krawallgruppen mittels Mobiltelefone über die "Brennpunkte" des Geschehens, wie der Journalist Bernard Schmid zu berichten wußte. So gelingt es ihnen, mit Mobilität, taktischem Geschick und Schnelligkeit "qualitative Vorteile" gegenüber der Staatsmacht herzustellen. Sollten die jugendlichen Migranten maghrebinischer oder schwarzafrikanischer Herkunft, die Frankreich nunmehr seit Wochen Nacht für Nacht mit Gewaltorgien überziehen, mit dieser Strategie weiter Erfolg haben, dürften sich im restlichen Europa bald Nachahmungstäter finden, wirkten doch, wie Enzensberger konstatiert, Bürgerkriege, "vom molekularen bis zum großen", ansteckend.

Hans Magnus Enzensberger: Aussichten auf den Bürgerkrieg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1993, kart., 95 Seiten, 5,50 Euro

Foto: Hans Magnus Enzensberger: Wußte die Signale beizeiten zu deuten


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