© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/05 18. November 2005

Beute für radikale Gotteskrieger
Europas Zukunft im Widerstreit: Hängt sie am Glauben oder an der Demokratie?
Oliver Busch

Als Jean-Pierre Obin, Generalinspekteur des französischen Erziehungsministeriums, Ende letzten Jahres einen Bericht über die landesweit ermittelten "Anzeichen und Äußerungen der religiösen Zugehörigkeit in den Schulen" vorlegte, ignorierte das die Öffentlichkeit weitgehend. Nur im Ministerium selbst erkannte man, daß Obin auf eine tickende Bombe gestoßen war. Konsequent im Sinne der herrschenden multikulturellen Ideologie der politischen Klasse handelnd, beschloß man daher, den Obin-Bericht lieber nicht in die Online-Publikationen des Ministeriums aufzunehmen.

Auf diese Vogel-Strauß-Strategie wies der Publizist Jürgen Liminski einige Monate vor Ausbruch der aktuellen "Unruhen" hin (Kultur Austausch 2/05). Was Obin herausfand, war in der Tat "alarmierend": "Muslimische Kinder und Erwachsene forderten (und erhielten) getrennte Toiletten sowie Tische in der Schulkantine, weil sie sich nicht unter 'Unreine' mischen wollten. Muslimische Schülerinnen weigerten sich, Kirchen zu besichtigen oder auch nur die Zeit des Kathedralenbaus im Unterricht durchzunehmen. Sie weigerten sich zu singen, zu tanzen oder zu musizieren. Die Evolutionstheorie wurde zugunsten eines fundamentalistischen Kreationismus abgelehnt. Es gab zudem Weigerungen, im Mathematikunterricht geometrische Formen zu zeichnen, die eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Kreuz aufwiesen."

Auf dem besten Wege nach "Eurabia"

Liminski ordnet diese massive Islamisierung Frankreichs seiner geschichtsphilosophisch grundierten These zu, daß aus Europa in absehbarer Zeit "Eurabia" werde, ein "Beutegut für radikale Gotteskrieger und ihre Anhänger". Um den "Herausforderungen des Islam" zu begegnen, so Liminskis Therapievorschlag, müsse Europa sich auf seine geistigen, primär auf seine christlich-religiösen Wurzeln besinnen. Europa stagniere demographisch, ökonomisch und politisch weil seinen Völkern die "innere Triebfeder" des Glaubens abhanden gekommen sei. Da "Glaube" aber keine erneuerbare Energie ist, müßte das welthistorische Schicksal der inzwischen "unumkehrbar" aufgeklärten Europäer aus Liminskis Sicht besiegelt sein.

Anders sehen das die Repräsentanten der abendländisch-rationalistischen Postmoderne. Bassam Tibi streitet im selben Heft von Kultur-Austausch für eine "curo-islamische Leitkultur", die bereinigt um den religiösen Faktor eine diffuse "Werte-Orientierung" am zivilisatorischen Minimalkonsens empfiehlt.

Der Münchener Soziologe Ulrich Beck sieht Europas Zukunft in der Beseitigung des "Demokratiedefizits" seiner Institutionen (Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/05), während der Freiburger Verfassungsrechtler Rainer Wahl (Juristen-Zeitung, 19/05) Europa noch eine Chance gibt, wenn es die Kraft aufbrächte, ein "europäisches Volk" bilden zu können. Allerdings muß Wahl im selben Atemzug einräumen, daß die letzten 46 Jahre EU-Geschichte wenig Hoffnung auf die Entwicklung eines transnationalen "Zugehörigkeitsgefühls und Gemeinschaftsbewußtseins" lassen.


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