© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/05 25. November 2005

PRO&CONTRA
Revision der EU-Landwirtschaftspolitik?
Jean Martine / Elena Espinosa

Die Landwirtschaft erweckt oft Sympathie, auch bei denen, die weit weg vom Land leben, was unter anderem eine angeborene Solidarität mit den Menschen, die von der Landarbeit leben, erklärt. Aber der Haushalts- und Gesetzessozialismus hat aus den Landwirten Zuschußempfänger gemacht, die beinahe die Hälfte des gesamten EU-Haushaltes erhalten.

Der heutige Zustand der EU-Agrarpolitik trägt das Zeichen des Interventionismus: die Verweigerung von Verantwortung, nach Pfründen suchende Individuen, ein schwer zu überblickendes Dickicht von Vorteilen, öffentliche Ausgaben mit einem Sperrklinkeneffekt - all das macht Reformen schwierig. Außerdem kommen achtzig Prozent der Hilfen den zwanzig Prozent der Landwirte zugute, die die größten Betriebe besitzen. Das steht dem von den Anhängern der EU-Agrarpolitik geäußerten Willen entgegen, der den Schutz der Landwirtschaftsdiversität und der kleinen Betriebe zum Ziel hat. Dieses Haushalts-Aushalten von Großbetrieben steht überdies im Widerspruch zur Wirtschaftsentwicklung, die laut Schumpeter durch eine "konstruktive Zerstörung" funktioniert. Sektoren verkleinern sich durch internationale Spezialisierung oder technische Fortschritte. Auf diese Weise freigesetzte Mittel begleiten die Entwicklung neuer Industrien.

Der letzte Bericht der Weltbank über den Agrarhandel hebt deutlich die katastrophalen Folgen der gemeinsamen EU-Agrarpolitik für die Entwicklung der armen Länder hervor. Obwohl die Landwirtschaft die erste Entwicklungschance für diese ist, leiden sie an Eintrittstaxen von durchschnittlich neunzehn Prozent. Dazu kommen EU-interne Produktionssubventionen, welche den potentiellen Wettbewerb der armen Länder auf unseren Märkten zusätzlich beeinträchtigen. Zahlreich sind also die Argumente für eine Reform der EU-Agrarpolitik. Allein, es fehlt der Mut, sie in Angriff zu nehmen.

 

Jean Martinez ist Anwalt und Generalsekretär des unabhängigen Institut de formation politique in Paris. Internet: www.ifpfrance.org

 

 

Es besteht gar kein Zweifel daran, daß die EU-Landentwicklungsfonds unerläßlich sind, und das nicht nur für die Agrarentwicklung. Ein Teil der Öffentlichkeit fragt immer beharrlicher nach den Vorteilen der EU-Agrarpolitik für die ganze Gesellschaft. Aber diese Fragen stützen sich in den meisten Fällen auf eine rein ökonomistische Sicht.

Die Landwirte und alle Bewohner unserer Dörfer erhalten die bäuerliche Welt lebendig - unsere Traditionen, unsere Kultur und unsere Wurzeln. Diese Feststellung entspricht dem europäischen Landwirtschaftsmodell, in dem die Landarbeit nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale, kulturelle, eine schlechthin multifunktionelle Rolle spielt. Die Gesellschaft muß sie fördern und muß dazu bereit sein, die - im Vergleich zu dem Stadtleben - mit dem Landleben verbundenen Schwierigkeiten wirtschaftlich auszugleichen, unter anderem mit Unterstützungs- oder Bildungsleistungen.

Tatsächlich macht die gemeinsame EU-Landwirtschaftspolitik 40 Prozent der europäischen Ausgaben aus. Aber es muß auch darauf hingewiesen werden, daß sie die einzige wirklich gemeinsame europäische Politik ist. Seit ihren Anfängen kann die Entwicklung der Europäischen Union nicht ohne die EU-Agrarpolitik gedacht werden, die in mehreren Fällen als gemeinsame treibende Kraft gedient hat. Die EU-Agrarpolitik und die Förderung der Landwirtschaft sind für unsere Umwelt und für unsere Ernährungssicherheit notwendiger denn je. Die Landwirtschaft und die Rolle unserer Bauern und Züchter müssen von der Gesellschaft anerkannt und aufgewertet werden. Es geht nicht nur um die Zukunft der Landwirte und Landwirtinnen, sondern der ganzen Gesellschaft, in der wir leben. Es kann keine Landwirtschaft ohne Zukunft geben, weil es keine Zukunft ohne Landwirtschaft gibt.

 

Elena Espinosa ist spanische Ministerin für Landwirtschaft, Fischerei und Ernährung.


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