© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/05 25. November 2005

"Eine neue Welt entsteht"
Der Wirtschaftshistoriker Manfred Pohl über die Globalisierung als "industrielle Revolution" des 21. Jahrhunderts
Moritz Schwarz

Herr Professor Pohl, seit Dienstag haben wir eine neue Bundesregierung, von der allerdings zweifelhaft ist, ob sie wirklich vier Jahre bestehen wird, um die anvisierten Reformen zu bewältigen. Sie sehen Deutschland allerdings ohnehin nicht nur in einer "einfachen Krise", sondern vor einem Strukturwandel von historischem Ausmaß.

Pohl: So erfreulich es ist, daß die neue Bundesregierung nun steht, von der wir alle uns wichtige Reformschritte erwarten, so ist doch die historische Situation, in der wir uns heute befinden, in gewisser Weise mit dem "take off", also dem "Durchstarten", in der Epoche der industriellen Revolution vergleichbar. Damals ist durch technischen Fortschritt und Migration eine vollkommen neue Arbeitsordnung entstanden, was schließlich zu einem völligen Umkrempeln auch der sozialen und kulturellen Verhältnisse geführt hat. Am Ende war eine "neue Welt" entstanden.

Nun stehen wir wieder vor der Geburt einer "neuen Welt"?

Pohl: Die Kommunikationstechnologie und die globale Vernetzung verändern die bisherigen Produktionsprozesse ebenso wie im 19. Jahrhundert die 1712 erfundene Dampfmaschine und die nachfolgenden Erfindungen die damaligen. Die Globalisierung schafft neue ökonomische Gegebenheiten, die den Veränderungen damals in gewisser Hinsicht gleichen. Vor allem die demographische Situation ist ähnlich. Die "Landflucht" und die Konzentration der Menschen in den Städten im 19. Jahrhundert, wo die neuen Industriezentren entstanden, war nur möglich durch Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit (soziale Revolution). Gleichzeitig wurde durch die Erfindung der künstlichen Düngemittel (Agrarrevolution), die Erfindung neuer Medikamente (medizinische Revolution) die Ernährung und medizinische Versorgung in den Städten erst möglich. Die innerdeutsche Migration hat eine neue Gesellschaftsstruktur geschaffen, ähnlich wie wir es derzeit durch die Vielfalt der Volksgruppen erleben, die nach Europa drängen. In Europa werden bei anhaltender Entwicklung 2050 zum Beispiel 65 Millionen Muslime leben. Ernährung, medizinische Betreuung angesichts neuer Epidemien wie Aids, Sars, Vogelgrippe, Ebola etc. und neue soziale, ökonomische, politische und nicht zuletzt kulturelle Veränderungen spielen eine ähnliche Rolle wie in Deutschland im Mittelalter (Pest) und als Folgeerscheinungen der industriellen Revolution. Gentechnisch veränderte Lebensmittel werden in der Ernährung, neue Medikamente bei der Bekämpfung der globalen Seuchen und die Wanderbewegungen weltweit die soziale Struktur und natürlich auch die politische und ökonomische Struktur verändern, nicht nur in Europa, sondern auch in den USA, wo etwa der lateinamerikanische Bevölkerungsanteil so rapide wächst, daß Spanisch zur zweiten Landessprache wird.

"Angriff auf den Nationalstaat von zwei Seiten"

Damals führten die Umwälzungen zunächst zur Substituierung, schließlich zum Sturz der Monarchien durch Demokratien. Was wird im 21. Jahrhundert die Demokratie ersetzen?

Pohl: Wenn wir Glück haben, gelingt uns in Europa - wie im 19. Jahrhundert zum Beispiel in Großbritannien oder Skandinavien - der evolutionäre Übergang in neue stabile politischen Verhältnisse. Im 19. Jahrhundert löste der Nationalstaat den Feudalstaat ab, nun im 21. Jahrhundert wird der Nationalstaat - noch nicht vollständig, auch der Feudalstaat wurde im 19. Jahrhundert noch nicht vollständig beseitigt - vom supranationalen Staat abgelöst.

Sie sprechen von der Europäischen Union?

Pohl: Ja, aber eines Tages vielleicht auch von asiatischen Staatenbünden, von den Vereinigten Staaten von Südamerika, vielleicht auch einmal von den Vereinigten Staaten von Afrika. Die globale Herausforderung wird supranationale Staatenbünde ebenso notwendig machen, um sich in Zukunft zu behaupten, wie im 19. Jahrhundert die nationale Herausforderung die Bildung von Nationalstaaten. Der Nationalstaat wird natürlich nicht gänzlich verschwinden, aber einerseits wird er in größere "Unionen" integriert, zum anderen werden die Regionen im Nationalstaat eine immer stärkere Rolle spielen. Der "Angriff" auf den Nationalstaat erfolgt demnach von zwei Seiten.

Gibt es keine Alternative? Muß sich Geschichte zwangsläufig wiederholen?

Pohl: Nein, Geschichte wiederholt sich nicht. Geschichte geschieht immer nur einmal. Aber bestimmte historische Konstanten verhalten sich unter dem Einfluß bestimmter historischer Faktoren ähnlich - wenn keine unvorhergesehenen Faktoren auftreten.

Zum Beispiel?

Pohl: Eine solche nicht berechenbare Größe könnten Seuchen sein. Das ist ein Faktor, den wir im 20. Jahrhundert als historisch ausgeschaltet betrachtet und daher nicht für das 21. Jahrhundert kalkuliert haben. Da könnten wir uns gehörig täuschen. Stellen Sie sich nur vor, Sars zum Beispiel wäre in China nicht nur lokal, sondern flächendeckend aufgetreten. Das hätte den Ausfall von Produktion und Dienstleistung für die Weltwirtschaft in einem Maße bedeutet, das nicht spurlos an uns vorübergegangen wäre. Sollte es einer Seuche gelingen, bis ins in Herz der EU oder der USA vorzudringen, wären die Folgen verheerend. Auch das 19. Jahrhundert kannte verheerende Seuchen. Zwar sind Medizin und Hygiene in Europa seitdem entscheidend verbessert worden, andererseits waren Infrastruktur- und Transportdichte und die Vernetzung unserer Systeme damals bei weitem noch nicht so weit fortgeschritten wie heute. Allerdings ist der Faktor Seuchen nicht die einzige Unbekannte, man muß außerdem den islamische Terrorismus oder Migration und Parallelgesellschaften nennen.

Bereits heute steht Europa ratlos sowohl vor den noch vergleichsweise glimpflich ablaufenden Eruptionen der Einwanderungsgesellschaft, wie jüngst in Frankreich, wie auch vor dem noch vergleichsweise geringen Ansturm aus Afrika, wie zuletzt in Ceuta und Melilla.

Pohl: Die Antwort auf die Herausforderung der Migration kann nur Bildung sein. Denn nur durch Bildung schafft man die Arbeitsplätze, die die Auswanderungswilligen in ihren Ländern halten. Wir müssen also Grundlagen schaffen und nicht Zäune bauen!

Auch im 19. Jahrhundert hat man auf Bildung gesetzt, um die sozialen Spannungen abzubauen - damals hat es nicht funktioniert.

Pohl: Unsere große Chance ist, daß wir die Entwicklung des 19. Jahrhunderts studieren und daraus lernen können.

Was zum Beispiel?

Pohl: Bildung allein reicht nicht aus, es muß auch gesellschaftliche Integration stattfinden. Das war im 19. Jahrhundert kaum der Fall.

Also ist Zuwanderung kein Problem?

Pohl: Das habe ich nicht gesagt. Im 19. Jahrhundert führte sie zunächst zu einem Zusammenbruch der Sozialstruktur der betroffenen Staaten- und Städtestruktur. Die Migration der industriellen Revolution hat aus vielen Städten Zonen des Elends gemacht. Wir können davon ausgehen, daß auch die Migration des 21. Jahrhundert zunächst Elend auslösen wird, bevor ein Ausgleich gelingen wird.

Entweder werden die Einwanderer die Europäer mit in ins Elend reißen, oder es wird eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entstehen?

Pohl: Die haben wir doch heute schon - denken Sie zum Beispiel an die medizinische Versorgung in Deutschland. Unter dem Einfluß einer Massenmigration wird diese Entwicklung allerdings voll durchschlagen.

Die letzte Klassengesellschaft in Deutschland hat schließlich zu verschiedenen Varianten sozialistischer Diktatur geführt. Können wir also das erneute Entstehen einer solche Situation guten Gewissens zulassen?

Pohl: Es ist kein Geheimnis, daß Klassengesellschaften zu revolutionären Stimmungen führen. In der Tat geht davon eine erhebliche Gefahr aus.

Was soll man sich unter "revolutionärer Stimmung" konkret vorstellen?

Pohl: Bestenfalls bekommen wir eine evolutionäre Veränderung hin, schlimmstenfalls wäre eine weltweiter Umsturz der bestehenden Verhältnisse denkbar.

Zuwanderung bedeutet also den Import des Sprengstoffs, der uns morgen in die Luft jagt?

Pohl: Das Problem ist, wie sollen wir die Migration verhindern, wenn die Zuwanderer erstmal massenhaft vor unseren Toren stehen. Da ist es doch besser, die Menschen schon bei sich zu Hause davon zu überzeugen, gar nicht erst aufzubrechen.

Experten beschreiben Afrika jedoch als "schwarzes Loch", in dem jede Entwicklungshilfe-Maßnahme letztlich fruchtlos verschwindet.

Pohl: Dem ist schwer zu widersprechen.

Dann ist Europa dazu verdammt, in die afrikanische Katastrophe mitgerissen zu werden?

Pohl: Wir sollten hart daran arbeiten, eine Lösung zu finden.

"Rückkehr des Kolonialismus? - In gewisser Weise ja!"

Sie sprechen offenbar von "nation building", das betreibt man in Afrika allerdings schon seit der Entkolonisierung ohne Erfolg.

Pohl: Es gelingt ja derzeit nicht einmal im Irak. Wir müssen heute übertriebenen Patriotismus und Nationalismus vermeiden, statt national müssen wir menschheitlich denken, statt Krieg friedensstiftende Maßnahmen ergreifen, multikulturelle Bildungssysteme und Bildungsansprüche müssen zusammengeführt werden, das heißt Diversifizierung, Akzeptanz und Toleranz usw.

Im Klartext, eine Rückkehr des Kolonialismus?

Pohl: In gewisser Weise geschieht das schon, nur heute nicht mehr mit "Schutztruppen", sondern mit Entwicklungsprojekten. Das Problem ist - das erleben wir auch in Europa -, daß es sehr schwierig ist, lokale Kulturen technisch auf westlichen Standard zu bringen, sozial und kulturell aber zu erhalten.

Die Erfahrung zeigt: Entweder werden sie komplett verwestlicht, oder sie zeigen sich nicht in der Lage dazu, westliche Technologien konstruktiv anzuwenden.

Pohl: Es ist interessant zu beobachten, daß wenn man in einem Andendorf einen Internetrechner installiert, die Jugendlichen innerhalb einer Woche in der Lage sind, etwa mit den Modehäusern in Paris zu kommunizieren. Das ist natürlich eine schizophrene Situation, aber da müssen wir ansetzen.

Kulturell umorientieren müssen sich jedoch nicht nur die Afrikaner, sagen Sie voraus.

Pohl: Ja, das ist richtig. Wir Europäer müssen unsere Identität erhalten und festigen. Die europäische Identität basiert auf unserer gemeinsamen Geschichte, der abendländischen Philosophie und dem Christentum. Wir sagen zwar: Ich bin Deutscher, Franzose, Spanier, Italiener, ich bin Katholik oder Protestant, aber irgendwann sagen wir auch: Ich bin Europäer. Europa ist ein junger Begriff. Er deckte sich zuvor mit dem Begriff Christentum. In Asien ist das anders. Asien ist ein geographischer Begriff. Auch die islamische Kultur und Religion ist nicht an dem Nationalstaat gebunden. Der Moslem ist in erster Linie Moslem, die nationale Herkunft spielt nicht die entscheidende Rolle. Hierin liegt die große Gefahr. Moslems sind nur schwer in eine europäische Region zu integrieren. Sie wollen ihre Kultur und Religion beibehalten und schotten sich ab. Sie bilden quasi einen "Staat im Staat", Integration scheint nicht möglich, Partizipation ist äußerst schwierig. Den global agierenden Unternehmen, in denen alle Kulturen, Religionen, ethnische Minderheiten usw. vertreten sind, erwächst eine neue Aufgabe. Es reicht längst nicht mehr, Geld zu geben, also Sponsoring zu betreiben, sie müssen im politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Prozeß eine stärkere, richtungsweisende Rolle spielen. Auch hier sind neue Strukturen notwendig.

Sie sprachen vom "Angriff auf den Nationalstaat von zwei Seiten": Das 19. Jahrhundert schuf ihn, das 21. Jahrhundert beseitigt ihn?

Pohl: Als politische Größe und ökonomischen Rahmen ja. Jedoch wird er weiterhin eine kulturelle Aufgabe haben, denn die Menschen können in der Globalisierung ja nicht heimatlos werden. Die Regionen ersetzen mehr und mehr den Nationalstaat politisch, ökonomisch und kulturell.

Was ist mit der sozialen Dimension? Im 19. Jahrhundert brachte der Nationalstaat den Ausgleich in der sozialen Frage, die Sie ja künftig erneut gestellt sehen.

Pohl: Das, was der Nationalstaat bisher leistete, wird größtenteils nicht nur von supranationalen Institutionen, sondern ebenso von den Regionen übernommen worden. Die neue Sozialstruktur wird vor allem auf dieser Ebene ruhen, die vom supranationalen Rahmen umfaßt ist. Der Nationalstaat wird noch ein Orientierungs-, aber kein Hauptbezugspunkt mehr sein wird.

Der Nationalstaat stellt die Verkörperung der historisch erkämpften politischen Partizipation dar, er ist als Plattform, auf der sich die Bürger artikulieren, das Fundament der Demokratie.

Pohl: Es geht schon heute nicht mehr um England, sondern um die Region London, es geht nicht um die Schweiz, sondern um die Region Zürich, nicht um Italien, sondern um die Region Mailand, nicht um Deutschland, sondern zum Beispiel um die Region Rhein-Main. Der Nationalstaat klassischer Prägung ist passé. Es nützt nichts, sich den Anforderungen der Zeit zu verweigern.

Die Bürger verlieren ihre demokratische Teilhabe an undurchschaubare Über- und politisch machtlose Zwergstaaten. 150 Jahre Demokratiebewegung umsonst?

Pohl: Es geht nicht darum, Errungenschaften aufzugeben, es geht darum, daß der Nationalstaat das, was er 150 Jahre lang dem Bürger geboten hat, nicht mehr leisten kann.

"Reform der inneren Struktur Deutschlands"

Sie gehören dem Konvent für Deutschland an (JF 40/05), der nach eigenem Bekunden nach der Reform der Reformfähigkeit Deutschlands strebt. Nach Ihrer Logik rekurrieren Sie auf eine bereits veraltete Größe. Warum?

Pohl: Wir wollen einen Beitrag leisten, daß Deutschland in der sich rasch verändernden Weltsituation gerüstet ist. Es bedarf grundlegender Reformen, etwa in der Föderalismusstruktur und der Finanzverfassung. Die Deutschen müssen sich auf die zuvor genannten Entwicklungen einrichten. Die Aufgaben des Konvent für Deutschland stehen also nicht im Widerspruch zu den Entwicklungen, sondern sind unabdingbar, um den weltweiten Veränderungen Rechnung zu tragen.

Im Klartext: Zur Überwindung Deutschlands?

Pohl: Das ist nicht unser Ziel. Richtig ist, daß Deutschland seine innere Struktur verändern und festigen muß, um in Europa und der Welt weiterhin eine starke Rolle zu spielen. Uns geht es um Evolution, das heißt die politische, ökonomische, soziale und kulturelle Konkurrenzfähigkeit zu stärken und gleichzeitig die weltweiten Veränderungen zu berücksichtigen. Das halten wir für einen verantwortungsvollen Patriotismus.

 

Prof. Dr. Manfred Pohl ist Geschäftsführender Vorsitzender der Historischen Gesellschaft der Deutschen Bank und des Institute for Corporate Culture Affairs (ICCA) in Frankfurt am Main sowie Vorstandsmitglied mehrerer wissenschaftlicher Gesellschaften. Der Historiker und Volkswirt veröffentlichte zahlreiche Bücher zur deutschen Wirtschaftsgeschichte sowie zu Japan und Korea. Geboren wurde er 1944 in Bliensransbach bei Saarbrücken.

 

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