© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/05 25. November 2005

Schlechte Verlierer
Wiedergesehen: M. Kassovitz' Film "La Haine" erscheint wie ein Blick voraus im Zorn
Thor Kunkel

Schon als die ersten Autos in dem Pariser Vorstadtghetto Clichysous-Bois brannten und makabre Details über den Stromtod zweier Jugendlicher bekannt wurden, fühlte man sich unwillkürlich an "Haß - La Haine", das geniale Frühwerk von Mathieu Kassovitz erinnert: Abdel, ein junger Araber, zu Tode geprügelt von rassistischen Polizisten, wird im Film zum Auslöser einer Spirale der Gewalt, die im biblischen Gleichnis von "Auge um Auge, Zahn um Zahn" mündet.

Die laufenden Ereignisse in Paris und Lyon verstärkten noch den Eindruck des Déjà-vu: Immerhin lieferten sich die nächtlichen Unruhestifter inzwischen Feuergefechte mit den Einsatzkräften vor Ort, das Bild einer Schrottpatrone geisterte tagelang durch die Medien.

Der 1994 mit der Goldenen Palme von Cannes ausgezeichnete "Haß" gehört zweifellos zu den besten französischen Filmen. In schlichtem Schwarzweiß schildert Kassovitz einen Tag im Leben dreier Freunde: Vinz (Vincent Cassel), Hubert (Hubert Koundé) und Said (Said Taghmaoui) führen ein trostloses Dasein in einem Siedlungskomplex außerhalb von Paris. Ein Ort der Abgeschobenen, der Ausgestoßenen, der Verlierer - denn zumindest Hubert und Said sind Nachkommen muslimischer Einwandererfamilien aus Nord- und Schwarzafrika.

Der fast dokumentarisch wirkende Film (bis hin zu den identischen Vornamen der Hauptdarsteller) macht das Ticken der sozialen Zeitbombe hörbar und vermittelt die erstickende Atmosphäre einer Parallelgesellschaft vor den Toren von Paris. Die weltoffene Metropole an der Seine zerfällt vor Kassovitz' Kamera in lauter desolate, heruntergekommene Plätze, Angstgegenden und Kulissen einer vordergründig heilen Scheinwelt, durch die sich seine Figuren wie Schlafwandler bewegen. Und immer wieder anecken. Unangenehm auffallen. Ihre einsilbigen Gespräche über einen geplatzten Drogendeal und Straßenschlachten mit der Polizei gipfeln für Vinz in der wahnwitzigen Idee, seinen sterbenden Freund Abdel mit Gewalt rächen zu müssen. Einmal, so scheint es, will er nicht verlieren, sondern ein Unentschieden rausholen. Die Logik der Straße nimmt ihren Lauf, als Vinz eine Polizeiwaffe findet ...

"La Haine" ist kein Film, der das multikulturelle Zusammenleben verherrlicht, sondern verurteilt es zum Scheitern. Die verfehlte, chauvinistische Integrationspolitik Frankreichs, das Sich-selbst-Überlassen von muslimischen Kommunen (manche inzwischen so groß wie Kleinstädte) und die rüde Vorgehensweise der Ordnungshüter gegen Jugendliche haben ein Klima erzeugt, in dem nur Haß und Mißtrauen gedeihen. Es geht um Rache am System, um einem gerechten Ausgleich für das jahrelang erlittene Unrecht. Der Film bietet keinen Ausweg aus der hoffnungslosen Misere, keine andere Lösungsmöglichkeit als Gegengewalt.

Durch seine unterkühlte Bildästhetik hält der Regisseur zwar Distanz, doch scheint er das Milieu gut zu kennen. Eine Schlüsselszene zeigt die drei "Verlierer" vor einem überdimensionalen Werbeplakat. "Die Welt gehört dir" liest man da. Said korrigiert die banale Botschaft mit der Sprühdose: "Die Welt gehört uns." Der Unterschied der Sichtweise könnte nicht deutlicher sein, denn der veränderte Satz markiert den Willen der Slumbewohner, sich ihr Stück vom Kuchen zu holen. Sie mögen mittellos sein, doch ihr Wille, sich zu behaupten - gegen eine übermächtige feindliche Umwelt -, ist ungebrochen. Das könnte in den kommenden Jahren immer öfter zu einem Problem werden.

Auch heute noch scheint in Kassovitz das alte Feuer zu brennen. Auf seiner Internetseite nimmt der Regisseur Stellung zu den aktuellen Ereignissen in Frankreich. Er nennt Innenminister Sarkozy einen "Möchtegern-Napoleon" und bemerkt, "angesichts der Verderbtheit der Politiker" müsse er sich "beherrschen, die Randalierer nicht zum Weitermachen zu ermuntern".

Er könne nicht tolerieren, daß ein Politiker "eine Situation zum Eskalieren bringt, die sich über Jahre hinweg durch Ignoranz und Ungerechtigkeit" der Regierenden zugespitzt habe. Sollten "die Vorstädte wieder explodieren, läge es weniger daran, daß die Leute ihr auswegsloses, seit Generationen anhaltendes Elend satt haben". Die brennenden Autos seien vielmehr "eine oberflächliche Reaktion auf die (von Sarkozy postulierte) Respektlosigkeit" gegen die Gemeinschaft der Ausgestoßenen.

Nicht für alle Ausgestoßenen endet es so schlimm wie im Film: Mathieu Kassovitz brachte sein "Haß" nach Hollywood, nachdem Sharon Stone sich für den damals unbekannten Filmemacher interessierte. Er dreht seitdem großes Kino wie "Die purpurnen Flüsse" (2000) und "Gothika" (2003) und arbeitet angeblich bereits an einem neuen Opus mit dem vielversprechenden Titel "Babylon A.D." Und Vincent Cassel, der echte Vinz also, brachte es vielleicht noch weiter: Immerhin heiratete er die womöglich schönste Frau der Welt, Monica Bellucci, und das scheint zumindest den Untertitel des Films zu bestätigen: "Es macht nichts aus, wie tief du fällst, sondern wie du landest."

Weitere Informationen finden sich auf der Internetseite www.mathieukassovitz.com

Foto: Vinz (Vincent Cassel): Die Ausgestoßenen mögen mittellos sein, doch ihr Wille ist ungebrochen


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