© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/05 25. November 2005

Regieren mit Ausklammern
Klaus Schönhovens' Arbeit über die Große Koalition von 1966 offenbart ungeahnte Parallelen
Detlef Kühn

Als dieser dickleibige Band des Mannheimer Zeithistorikers Klaus Schönhoven zur Geschichte der Koalition von CDU/CSU und SPD in der alten Bundesrepublik vor einem knappen Jahr erschien, ahnte niemand, daß das Thema "Große Koalition" nur einige Monate später wieder aktuell sein würde. Die Regierung des Bundeskanzlers Kurt-Georg Kiesinger stand nie im Mittelpunkt des Interesses der Zeithistoriker, sondern wurde meist als Übergang von der Herrschaft der Union unter Konrad Adenauer und seinem schwachen Nachfolger Ludwig Erhard zur sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt und später Helmut Schmidt gewürdigt. Andere Ereignisse dieser Jahre, die Studentenrevolte von 1968 mit ihren andauernden geistigen und moralischen Folgen, wurden eingehender untersucht und sind bis heute im öffentlichen Bewußtsein präsent.

Schönhoven schildert mit Akribie und gut lesbar das Zustandekommen der zahlenmäßig Großen Koalition und ihre Vorgeschichte. Er stützt sich auf gedruckte und ungedruckte Quellen, darunter viele Nachlässe von damals handelnden Politikern, sowie auf die bereits vorliegende Literatur. Erstaunlicherweise verzichtet er völlig auf Interviews mit Zeitzeugen, die in vielen Fällen noch möglich wären. Dadurch bleibt manches, was durchaus hätte untersucht werden müssen, unterbelichtet, zum Beispiel die Rolle des damaligen Parlamentarischen Geschäftsführers der SPD-Fraktion Karl Wienand, der sicherlich nach Herbert Wehner und Helmut Schmidt zu den wichtigsten "Strippenziehern" in der Fraktion zählte. In diesem Buch wird er nur am Rande erwähnt. Sein Verhältnis zum Ministerium für Staatssicherheit der DDR wird überhaupt nicht thematisiert.

Wenn der Rezensent diesen Beitrag in der Zeit der Verhandlungen über eine neue Große Koalition unter der Bundeskanzlerin Merkel verfaßt, wird er immer wieder zu Vergleichen zwischen den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und heute angeregt. Natürlich war vieles damals völlig anders. Der einst hoch aktuelle Streit um die Deutschlandpolitik, die Anerkennung der DDR hat weniger durch die neue Ostpolitik der sozialliberalen Koalition als durch die Wiedervereinigung 1990 seine Erledigung gefunden. Schönhoven schildert das alles anschaulich und zutreffend, aber es ist gottlob nun wirklich Geschichte. Durchaus aktuell sind dagegen Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Folgen der Rezession 1965/66 bekam man damals schnell in den Griff, das Haushaltsdefizit war - ebenso wie die Arbeitslosenzahlen - lächerlich gering im Vergleich zu den katastrophalen Zahlen von heute. Die betriebliche Mitbestimmung bewegte damals die Gemüter mehr als heute, wo sich jeder vor allem Sorgen um den Erhalt seines Arbeitsplatzes macht. Die Ausdehnung der paritätischen Mitbestimmung im Montanbereich auf andere Industriezweige war damals durchaus ein Thema, wurde aber wegen unüberwindlicher Meinungsverschiedenheiten ausgeklammert. Auch diesmal wird man das heiße Eisen nicht anpacken, obwohl noch immer umstritten ist, in wie weit die Mitbestimmung im Zeitalter der Globalisierung die Investitionsbereitschaft ausländischer Kapitalgeber in Deutschland beeinträchtigt.

Ein Déjà-vu-Erlebnis hat man, wenn man die heutigen Auseinandersetzungen um die Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Großen Koalition verfolgt. Alles schon dagewesen. Im November 1966 wischte Helmut Schmidt Bedenken seiner Genossen vom Tisch, die Ministerriege der Sozialdemokraten, die innerhalb der Regierung in der Minderheit waren, könne zum Juniorpartner der Union degradiert werden: "Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers sollte man innerhalb einer Großen Koalition nicht überschätzen. Es gibt keine Richtlinien gegen Brandt und Wehner." Das gilt auch heute, nur muß man die genannten Namen durch Müntefering oder Steinbrück ersetzen. Der Unterschied zu 1966 ist, daß die SPD heute sogar über mehr Ministerämter verfügt als die Union.

Kiesinger hat seine nach der Verfassung bestehende Richtlinienkompetenz nie eingesetzt. Es hätte das sofortige Ende seiner Regierung bedeutet. Statt dessen verlagerte sich die Entscheidungskompetenz in inoffizielle Koalitionsgremien, vor allem den "Kressbronner Kreis". In dieser Runde von zuletzt nur acht Personen spielten die Fraktionsvorsitzenden von Union und SPD, Rainer Barzel und Helmut Schmidt, eine bedeutende Rolle. Eine ähnliche Entwicklung könnte sich jetzt wiederholen - vielleicht sogar die Art und Weise, wie die Große Koalition 1969 endete. Allen Unkenrufen zum Trotz hielt sie damals formal bis zum regulären Ablauf der Legislaturperiode. Faktisch war sie schon fünf Monate vorher zerbrochen. Auslöser war ein währungspolitisches Problem, die Aufwertung der Deutschen Mark, bei dem man wohl annehmen mußte, daß die Mehrheit der Wähler die Berechtigung einer solchen Entscheidung nicht beurteilen konnte. Selbst die Fachleute waren sich nicht einig. Dennoch stritt der damalige SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller unter Einsatz seiner Eloquenz und seiner Autorität als Professor öffentlich vehement für eine Aufwertung, während der CSU-Finanzminister Franz Josef Strauß ebenso brutal die Gegenposition einnahm. Beiden gelang es im Laufe des Sommers, ihre Fraktionen und Parteigremien, in denen man ursprünglich durchaus unterschiedlicher Meinung war, hinter sich zu scharen. Ein Kompromiß war nicht möglich, wohl auch auf beiden Seiten nicht mehr erwünscht. Die Entscheidung fiel vier Wochen nach der Bundestagswahl zugunsten einer zehnprozentigen Aufwertung der D-Mark. Aber da war die Regierung der Großen Koalition bereits erledigt.

Foto: NRW-Vorsitzender Heinz Kühn (SPD) und Helmut Schmidt bei den Koalitionsverhandlungen mit der Union im November 1966: Heute verfügt die SPD sogar über mehr Ministerämter als die CDU/CSU

Klaus Schönhoven: Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966-1969, (Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945, Bd. 2) Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2004, 734 Seiten, gebunden, 58 Euro


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