© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/05 25. November 2005

Alle Macht den Netzwerken
von Michael Wiesberg

Feudalismus, damit bezeichnet die marxistische Geschichtsphilosophie eine vom Staat abgehobene Feudalgesellschaft, die sich bestimmter Pri-vilegien erfreut, die anderen verwehrt sind. Die negative Konnotation der Bezeichnung "Feudalismus" hat sich bis heute durchgehalten. Sie steht für ein fragwürdiges Herrschaftsverhältnis, das man in Europa seit zirka Mitte des neunzehnten Jahrhunderts für überwunden hält. Der sich humanitär gebende, "kritisch-aufgeklärte" Zeitgeist glaubt heute Lichtjahre von jener Epoche entfernt zu sein, die der Marxismus als "Feudalismus" kennzeichnete. Tatsächlich, und dies ist die These dieses Beitrages, gibt es heute Entwicklungen, die auf eine schleichende Refeu-dalisierung hinauslaufen. Wichtige Momente dieser Entwicklung sind die "informellen Netzwerke", in denen sich Clans, Dynastien und Familien, aber auch Experten oder Parteien, Industriekonzerne, Stiftungen, Elite-Universitäten, politische Berater und Unternehmensberater finden. Diesen Netzwerken fällt mehr und mehr demokratisch nicht legitimierte politische Entscheidungsmacht zu. Sie können, so drückte es der freie Rundfunkjournalist Stefan Fuchs in einem Beitrag für das Deutschlandradio aus, als "Kristallisationskerne neuer Machtentfaltung" gedeutet werden, zu denen Fuchs auch die weltweit zwei- bis dreitausend "Superreichen" mit einem Vermögen von mindestens zwei bis drei Milliarden Dollar zählt.

"Power Structure Research" (PSR) nennt man in den Vereinigten Staaten die Deskriptionsmodelle, mit denen die heutigen Machteliten beschrieben werden. Ihre postmoderne Etablierung beginnt mit C. Wright Mills Werk "The Power Elite" (1956/2000). Forschungsgegenstände des PSR sind nach den Ausführungen des Münsteraner Soziologen Hans-Jürgen Krysmanski zum Beispiel "das Umfeld und die ökonomischen Interessen von einzelnen Mitgliedern der Machtelite, die innere Machtstruktur großer Konzerne und ihre Einflußnahme, der Geldfluß aus diesen Kreisen an politische Kandidaten und Parteien und die Rolle von special interest groups, Lobbyisten, Stiftungen, Denkfabriken und Unternehmensverbänden". Untersucht werden aber auch die Abhängigkeiten der politischen Klasse und der Parteien. Die Forschungen haben ergeben, daß ein relativ kleiner Kreis von Personen "in immer neuen Kombinationen" die Vorstände der wichtigsten Großkonzerne, Banken, Versicherungen, Investitionsfirmen, staatlichen Institutionen, Elite-Universitäten, kulturellen Organisationen, Stiftungen oder ähnliches besetzt. Im Zentrum dieses "hochgradig vernetzten Systems" wirken nach Krysmanski "Policy Discussion Groups", wie der Council on Foreign Relations, Business Roundtable, Committee on Economic Development, The Brookings Institution oder das American Enterprise Institute. Hier werden die wichtigsten parlamentarischen und gesetzgeberischen Aktivitäten "vorentschieden". Das PSR wird ständig aktualisiert und hat mit den Arbeiten von Dye, Domhoff oder Parenti Standardwerke hervorgebracht, die eine relativ genaue Deskription der neuen Machteliten erlauben.

Leitkultur für die Auswanderung politischer Entscheidungsmacht in die "informellen Netzwerke" sind nach den Recherchen von Stefan Fuchs die Vereinigten Staaten, die mit Manuel Castells wohl nicht zufällig den ersten dezidierten Theoretiker dieser Entwicklung hervorgebracht haben. Castells, Soziologie-Professor an der University of California in Berkeley, konstatiert in seinem dreibändigen Werk "Das Informationszeitalter", daß die "globalen Netzwerke von Reichtum, Macht und Information den modernen Nationalstaat umgehen", der dadurch viel von seiner Souveränität verloren habe. Eine Folge dieser Entwicklung: Politische Ideologien, die auf dem Nationalstaat basierten, verlören mehr und mehr an Bedeutung. Parallel dazu beobachten wir die Auflösung der Gesellschaft als sinngebendes soziales System. An ihre Stelle tritt eine Welt, die "ausschließlich aus Märkten, Netzwerken, Individuen und strategischen Organisationen" gemacht ist und anscheinend durch "Muster rationaler Erwartungen" regiert wird. Identität spielt in dieser Welt keine Rolle mehr, an ihre Stelle treten "Grundinstinkte, Machtantriebe, selbstzentrierte strategische Berechnungen".

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Parallel zur steigenden Bedeutung "informeller Netzwerke" kann der Niedergang der Parteiorganisation durch die von den Medien forcierte Orientierung am modernen Management beobachtet werden.

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Nach Fuchs vollzieht sich in den USA die politische Meinungsbildung nicht mehr in Senat und Kongreß, sondern in den informellen Netzwerken aus Think Tanks, Elite-Universitäten und Stiftungen, die mittels organisierter Einflußnahme ihre Meinungsbildung in den politischen Prozeß einspeisen. Europa ist dabei, diese Entwicklung nachzuvollziehen. Ein Beispiel hierfür ist die Bertelsmann-Stiftung mit einem Jahresbudget von zirka sechzig Millionen Euro, die als "Herzstück eines Einflußnetzwerks" (Fuchs) eine Art Vorreiterrolle spielt. Rot-grüne Reformprojekte wie "Hartz IV" oder die "Agenda 2001" wurden in dieser Stiftung entwickelt.

In diesen informellen Netzwerken findet sich eine transnationale Zunft von Vermittlern und Entsendern, die vor allem durch eines geeint sind, nämlich durch ihre neoliberale Orientierung. Sie können, um auf die Ausgangsthese zurückzukommen, aufgrund ihres exklusiven Zugangs zu den politischen und medialen Machteliten und ihrer Privilegien als Schrittmacher der Refeudalisierung bezeichnet werden. Diese Machteliten, die in der postmodernen Debatte gerne als "Knotenpunkte im Netzwerk" anonymisiert werden, können nach Auffassung des Linguisten und Globalisierungskritikers Noam Chomsky als konkrete Akteure benannt werden. Die "hierarchisch gegliederte Wagenburg" der Machteliten besteht seiner Ansicht nach im Kern aus Superreichen und Unternehmensverwaltern. Den Politikern falle vor allem die Aufgabe zu, Verteilungsflüsse "plausibel" zu machen.

Parallel zur steigenden Bedeutung "informeller Netzwerke" kann der Niedergang der Parteiorganisation durch die von den Medien forcierte Orientierung am modernen Management ("Leadership") beobachtet werden. Der schwindende Einfluß der Parteien wird durch eine Personalisierung auf einige wenige Akteure (wie zum Beispiel Großbritanniens Premier Tony Blair, hinter dem die Labour Party fast unkenntlich geworden ist) camoufliert und verdeckt dabei mehr und mehr, daß Demokratie vor allem auf Institutionalisierung basiert.

Es ist diese Entwicklung, die zu einem guten Teil das grassierende Unbehagen an der Politik in den westlichen Demokratien erklärt. Einmal geht mehr und mehr der Glauben daran verloren, daß Politik einen Beitrag zur Lösung der individuellen Probleme leisten kann. Zum anderen bleiben Politiker immer häufiger die Umsetzung ihrer Wahlversprechen schuldig, was zu einem immer weiter um sich greifenden Ansehensverlust der Politik insgesamt führt. Exponenten dieses Erosionsprozesses sind der sich selbst inszenierende Politiker und der apathische Wähler.

Das Unbehagen an der Politik erklärt sich weiter aus dem Paradigmenwechsel, den diese in den letzten Jahren durchlaufen hat. Die Abfederung sozialer Unsicherheit wird in zunehmendem Maße nicht mehr als genuine Aufgabe der Politik betrachtet. Der Sozialstaat als "Therapie gegen Existenzangst" (Zygmund Baumann), einst eine heilige Kuh westlicher Demokratien, steht mehr und mehr zur Disposition. Die (neoliberale) Botschaft, die statt dessen propagiert wird, lautet: Die Logik des globalen Wettbewerbs bringt unausweichliche Einschnitte in das soziale Netzwerk mit sich. Der Bürger hat sich entsprechend zu "flexibilisieren". Wurde früher Sicherheit als Voraussetzung für Freiheit begriffen, wird heute nach den Worten des Soziologen Zygmund Baumann ein "abstrakter Freiheitsbegriff" (dessen Kern die Konsumfreiheit ist) bzw. ein "abstraktes Individuum" zur Leitidee der Emanzipation erhoben. Diese an neoliberalen Prinzipien orientierte Propaganda hat nach Auffassung des US-Soziologen Richard Sennett "eine extreme Mobilisierung und Flexibilisierung" sowie "steigende soziale Ungleichheit" zur Folge, die zum Verlust des sozialen Zusammenhalts führen. Sennett konstatiert überdies immer größere Macht in immer weniger Händen, was er mit der Dynamik des modernen Kapitalismus in Verbindung bringt. Dessen "innere Logik" führe "weg von der Demokratie" und hin zu dem, was Sennett "soft fascism" ("weichen Faschismus") nennt.

Der französische Politikwissenschaftler und langjährige Leiter des Strategiestabs des französischen Außenministeriums, Jean-Marie Guéhenno, hat in seinem Buch "Das Ende der Demokratie" (1993) bereits früh die Transformation der Politik und der demokratischen Prozesse in der "Netzwerkgesellschaft" antizipiert. Er sieht eine Gesellschaft heraufkommen, "die endlos fragmentiert ist, ohne Gedächtnis und Solidarität, eine Gesellschaft, die ihre Einheit nur in der Abfolge von Bildern wiedergewinnt, die ihr die Medien allwöchentlich zurückgeben". Auch hier haben die Vereinigten Staaten die Vorreiterrolle inne. Der renommierte US-Medienwissenschaftler Joshua Meyrowitz beispielsweise ist der Überzeugung, daß Hollywood bei der Organisation des gesellschaftlichen Konsenses in den USA längst die Regie übernommen hat. Wissenschaftler, Demoskopen, PR-Berater und Medienexperten sind im Auftrag der Machteliten damit beschäftigt, neue Steuerungs- und Kontrollinstrumente zu entwickeln, die entsprechende "Stimmungen" erzeugen sollen.

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Die Demokratie wird durch die Abhängigkeit der Parteien von finanziellen Zuwendungen aus den "informellen Netzwerken" zu einer "Demokratie als ob", sie entwickelt mehr und mehr feudale Strukturen.

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Paradigmatisch hierfür ist die PR-Agentur Hill & Norton geworden, auf die zum Beispiel das Greuelmärchen zurückgeht, daß irakische Soldaten im Golfkrieg 1991 in Kuwait-City Neugeborene aus den Inkubatoren gerissen haben sollen. PR-Agenturen wie Hill & Norton erstellen Expertisen, organisieren "Aufklärungskampagnen" (die auch, siehe oben, auf gezielte Desinformation hinauslaufen können) und leisten Unterstützung beim Management politischer Koalitionen. Hill & Norton kann durchaus als eine "Kommunikationswaffe", so der Publizist Rudolf Maresch, im Informations- bzw. Desinformationsmanagement bezeichnet werden. Dieser Begriff verdankt sich übrigens Carl Schmitt, der der Überzeugung war, daß Medientechnik "immer nur Instrument und Waffe" sei, "und eben, weil sie jedem dient", nicht "neutral" sein könne. "Jede Art von Kultur, jedes Volk und jede Religion, jeder Krieg und jeder Friede kann sich der Technik als Waffe bedienen." Ganz in der Logik dieser Analyse ist die Charakterisierung globaler US-Übertragungsmedien wie CNN, MTV oder Hollywood als "Medienhaubitzen", wie sie von den "Zukunftsforschern" Heidi und Alvin Toffler bezeichnet worden sind. Wie "objektiv" ein derartiger Journalismus noch sein kann, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Es reicht der Hinweis auf die Machtstrukturen, die das US-Fernsehen prägen.

Bezeichnend ist zum Beispiel, daß der Kanal NBC zu General Electric gehört, einem der größten US-Rüstungskonzerne. Derartige Abhängigkeitsverhältnisse sind kein Einzelfall. Besonders drastisch charakterisierte der renommierte US-Wissenschaftler Joshua Meyrowitz dieses Phänomen, der in einem Interview mit der Wochenzeitung Freitag davon sprach, daß die "Einseitigkeit der Medien" in den Vereinigten Staaten "viel größer als in einem totalitären System" sei. In einer Diktatur suchten die Menschen nach "alternativen Informationsquellen". In den USA könnten "die Menschen gar nicht verstehen, warum es so wichtig ist, sich auch aus anderen Quellen als den tonangebenden Massenmedien zu informieren. Sie wollen solchen Quellen einfach nicht glauben, gerade weil ihnen der freie Zugang garantiert ist." Diese Informationen bieten offensichtlich nicht das "Format", das im Politik-Marketing US-amerikanischer und zunehmend auch westeuropäischer Prägung "Siegchancen" besitzen könnte. Politik-Marketing meint hier mit Manuel Castells jenen Mix aus "ständigen Meinungsumfragen, Rückkopplungssystemen zwischen Umfragen und politischer Praxis, mit Nebenschauplätzen in den Medien, computergesteuerter Direktwerbung und 'phone banks' sowie die Anpassung von Kandidaten, Kandidatinnen und Programmen an das Format, das Siegchancen besitzt".

Castells ist der Meinung, daß Politik heute fast nur noch im "Medienraum" stattfinde, in den sie "verbannt" sei. Medienpolitik ist aber ein immer weiter ausuferndes Geschäft, da das ganze "Beiwerk der informationellen Politik" ständig teurer wird: Meinungsumfragen, Werbung, Marketing etc. Da die politischen Akteure "chronisch unterfinanziert" seien, steige die Kluft zwischen notwendigen Ausgaben und legalen Einnahmen. Sie sind auf finanzielle Zuwendungen aus den "informellen Netzwerken" angewiesen, die damit direkt auf Regierungsentscheidungen Einfluß nehmen. Castells schlußfolgert: "Das ist die Matrix der systemischen politischen Korruption, aus der sich das Schattennetzwerk von Schein-Unternehmen und Mittelsleuten entwickelt".

Die Demokratie wird auf diese Weise zu einer "Demokratie als ob", sie entwickelt mehr und mehr feudale Strukturen. Diese Konstellation ist es wohl, die Sennett im Auge hatte, wenn er davon spricht, der "moderne Kapitalismus" begünstige das "Diktat, den Führer, dem völlig gleichgültig ist, was die Mehrheit der Menschen denke". Im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktionsweise kann mit Blick auf die Träger dieser Macht nach dem bereits zitierten Hans-Jürgen Krysmanski von einer "neuen Form des Gottesgnadentums" gesprochen werden. Auf ein solches hatten sich die Feudalherrscher auch immer wieder berufen.

 

Michael Wiesberg, Jahrgang 1959, ist Publizist und Lektor. Auf dem Forum schrieb er zuletzt zum Thema Sozialstaat unter Bedingungen der Globalisierung (JF 12/05).


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