© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 49/05 02. Dezember 2005

Opfersicht auf die Kollektivschuld
von Konrad Löw

Am 4. Oktober 1941, mitten im Inferno des Zweiten Welt krieges und des Völkermordens, notierte der in Dresden wohnhafte Jude Victor Klemperer in sein Tagebuch: "Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde." Diese Sicht, nämlich die NS-Judenverfolgung damals in den Augen des deutschen Volkes eine Sünde, ist heute, zwei Generationen danach, durchaus nicht die herrschende.

Der Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Salomon Korn, vertritt die Auffassung, daß in Deutschland kaum "das Bewußtsein einer zwischen 1933 und 1945 verursachten tiefgreifenden kulturellen und zivilisatorischen Selbstamputation" zu spüren sei. "Dazu hätte es eines Unrechtsbewußtseins der Deutschen nach Kriegsende bedurft", das heißt doch des Bewußtseins aller Deutschen oder zumindest der großen Mehrheit, daß sie selbst schwerstes Unrecht begangen haben.

Wer hat recht, Klemperer 1941 oder Korn sechzig Jahre später, in der Tradition des israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Schamir, der, als die Wiedervereinigung Deutschlands auf der Tagesordnung der Weltpolitik erschien, äußerte: "Die große Mehrheit des deutschen Volkes entschied, Millionen Juden zu töten." Am 31. Mai 2005 äußerte Israels Staatspräsident, Moshe Katsav, vor dem Deutschen Bundestag und dem Deutschen Bundesrat: "Für die Shoa kann es weder Vergeben noch Verzeihen geben." Von wessen Schuld die Rede ist, die nicht vergeben werden kann, ist doch klar! Wirklich? Die Angesprochenen hätten sicherlich ganz unterschiedliche Antworten gegeben.

In einer Untersuchung, die den Titel trägt: "Der deutsche Umgang mit dem Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit", stellt Hans-Ulrich Thamer zutreffend fest: "Die deutsche Zusammenbruchsgesellschaft, die von Millionen Flüchtlingen, Vertriebenen, Ausgebombten und Kriegsinvaliden geprägt war und eine Gesellschaft in Bewegung darstellte, haderte vor allem mit dem eigenen Schicksal und war auf dessen Bewältigung bedacht; sie war weniger dazu bereit, über die persönliche oder kollektive Mitverantwortung an dieser Situation nachzudenken: Man verstand sich als Opfer, nicht als Täter." Dann kam Ende der sechziger Jahre die rebellische Generation der Töchter und Söhne, die, so Thamer, "ihre Väter pauschal als Täter oder Helfershelfer anklagten, die Bundesrepublik als neofaschistischen Nachfolgestaat des Dritten Reiches denunzierten, sich selber allzu rasch auf das hohe Roß des Anklägers setzten ..." - (Es versteht sich von selbst, daß es auf beiden Seiten Ausnahmen gab.)

Welche der beiden Altersgruppen trifft mit der mehrheitlich vertretenen Ansicht ins Schwarze, jene, die die Zeit am eigenen Leibe erlebt hat, aus eigener Erfahrung spricht, andererseits in gewisser Weise über sich selbst zu Gericht sitzt, oder jene, die als rebellische Generation ohne schlimme eigene Erfahrungen den Segen des Wirtschaftswunders genießen durfte, zugleich aber - ohne eigene historische Schuld - die moralischen Spätfolgen des Krieges und der NS-Verbrechen mit auszutragen hatte?

Da es sich bei der Shoa um eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte handelt, ist die Frage der Schuld und Mitschuld von überragender Bedeutung. Über die Hauptschuldigen gibt es unter denen, die sich zu Worte melden, keine Meinungsverschiedenheiten. Doch die zitierten Texte stellen die Frage in den Raum: Trägt die große Mehrheit der damals lebenden Deutschen Mitschuld an diesem Megaverbrechen, ist es gar ein Volk von Verbrechern gewesen? Falls diese Annahme zutrifft, so stammen die meisten heute lebenden Deutschen von Verbrechern ab. Manches spricht dafür, daß nicht wenige diese Sicht verinnerlicht haben. Nach nationalem Selbstbewußtsein, nach Nationalstolz gefragt, lag Österreich - "Hitlers erstes Opfer" - auf Platz eins gefolgt von den USA, Deutschland aber auf dem vorletzten Platz, vor der Slowakei.

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Die Kollektivschuld, also die automatische Einbeziehung Dritter in den Schuldvorwurf, wird kaum noch bejaht. Um so wichtiger ist es, jenen ihre Inkonsequenz vorzuhalten, die das pauschalisierende "die" verwenden.

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Das Verbrechen der Shoa als solches ist unstreitig, und die Hauptverantwortlichen sind weithin namentlich erfaßt. Die bekannten wie die unbekannten freiwilligen Helfer zählen dazu. Aber wer sind die Deutschen, von denen oben die Rede war, welches Verhalten wird ihnen zur Last gelegt, und was heißt schuldig? Ferner: Ist diese Frage überhaupt noch aktuell?

Die Ereignisse der Jahre 1933 bis 1945 scheinen heute brisanter denn je in der Nachkriegszeit. Zutreffend ist von einer Vergangenheit, die nicht vergehen will, die Rede. Presse, Funk und Fernsehen legen täglich Zeugnis davon ab. An welchem Tag ist Hitler nicht im Fernsehen? Das bleibt nicht ohne Folgen: "Deutschland präsentiert sich wegen seiner Nazi-Vergangenheit als Musterschüler rechtsstaatlicher Demokratie"- schreibt Bassam Tibi Ende 2004 im Focus - "und bietet den Islamisten eine Bewegungsfreiheit wie kein anderes Land des Kontinents." Also: "wegen der Nazi-Vergangenheit"! Vieles spricht dafür, daß sich an dieser Aktualität so schnell auch nichts ändert. Die Shoa ist zu Recht Bestandteil der deutschen Identität und soll es bleiben, mögen andere Völker noch so eindeutig ihre Identität mit Mythen ausstaffieren und die Schattenseiten ihrer Geschichte ausblenden.

Wer ohne zu zögern bejaht, daß die Shoa Deutschen anzulasten ist, einer - demokratisch nicht legitimierten - deutschen Regierung, ihren Mitgliedern und ihren Helfershelfern, bejaht nicht zugleich die Mitschuld der damals lebenden Deutschen. Jeder, der, wie Bundespräsident Horst Köhler in seiner Antrittsrede, versichert: "Ich liebe dieses Land!", "Unser Land sollte uns etwas wert sein!", muß auf die gewissenhafte Beantwortung der aufgeworfenen Frage drängen. Voraussetzungen dafür sind nicht nur fundierte Geschichtskenntnisse, sondern auch Vertrautheit mit den einschlägigen Begriffen und Normen. Sie sollen daher vorab in der gebotenen Kürze definiert werden.

"Schuld" meint, entsprechend dem Sprachgebrauch jeder neuzeitlichen Rechtskultur, Vorwerfbarkeit. Schuld hat zur Voraussetzung, daß ein geschriebenes oder ungeschriebenes Gesetz verletzt worden ist und die Täter kein Schuldausschließungsgrund, wie Minderjährigkeit, Störung der Zurechnungsfähigkeit, ein unvermeidlicher Irrtum oder ein Notstand, entlastet. Schuld hat Verantwortlichkeit zur Voraussetzung. Aber nicht jeder Verantwortliche trägt die Schuld an allem Gesetzwidrigen, was in seinem Kompetenzbereich geschieht. Ihm muß nachgewiesen werden, daß er seine Pflichten verletzt hat. Auch durch Unterlassen kann das Gesetz verletzt werden, falls eine Pflicht zum Handeln bestanden hat. Nicht rechtlich, aber moralisch ist jener nicht frei von Schuld, der zwar nicht Hand angelegt, aber von den Verbrechen gewußt und sie gebilligt hat. Schuld ist zu unterstellen bei den antisemitischen Agitatoren, den Ausgrenzern, den Denunzianten, den willigen Kollaborateuren, von den Tätern ganz abgesehen.

Das Wort "Kollektivschuld" ist fester Bestandteil der deutschen Sprache. Doch wird Kollektivschuld, also die automatische Einbeziehung Dritter, der Kinder, der Eltern, der Nachbarn, der Volkszugehörigen usw., in den Schuldvorwurf, kaum noch bejaht, weshalb eine Befassung mit diesem Exponat einer archaischen Rechtspflege unnötig erscheint. Um so wichtiger ist es, jenen ihre Inkonsequenz vorzuhalten, die in ihren einschlägigen Texten das pauschalisierende "die" verwenden, also die Deutschen, die Juden, die Christen ansprechen. Alfred Grosser geißelt diese Praxis mit geradezu drastischen Worten: "Nichts bewirkt stärker Ausschluß und Mord als der entsetzliche bestimmte Artikel: die Juden, die Araber, die Russen, die Deutschen." Der naheliegende Einwand dürfte lauten, mit "die Deutschen" seien zwar nicht alle Deutschen gemeint, aber die große Mehrheit. Das gerade gilt es zu prüfen.

Wer zählt zu den Deutschen? Alle deutschen Staatsangehörigen? Doch das sprengt jeden Rahmen und macht die gängigen Vorwürfe eklatant unsinnig. Welcher Stichtag oder Zeitraum bietet sich an? Bei Hitlers Machtantritt am 30. Januar 1933 stand die Mehrheit der Deutschen nicht hinter Hitler, auch nicht bei der letzten halbwegs freien Wahl am 5. März 1933. Seine Partei kam am 5. März 1933 "nur" auf 43,9 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen. Wer das Kriegsende als Stichtag wählt, muß zumindest die Minderjährigen ausklammern, da er sonst eklatant gegen elementare Errungenschaften der modernen Rechtsentwicklung und jeder passablen Ethik verstößt. Was ist mit den deutschen Hitlergegnern, was mit den deutschen Juden und den anderen Verfolgten? Soweit ersichtlich, ist bisher jeder Ankläger dieser Art einer begründeten Antwort ausgewichen. Wer auf dem Boden des personalistischen Grundgesetzes steht - "Die Würde des Menschen ist unantastbar" - und jede kollektivistische, völkische Betrachtungsweise ablehnt, wird der Zuordnung zu einzelnen Völkern und Volksgruppen ohnehin nur untergeordnete Bedeutung zusprechen. Im Zweifel sind mit "die Deutschen" alle jene gemeint, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Sie wurde auch den Juden nicht aberkannt.

Von den Deutschen, die sich in Schuldgefühlen suhlen, spricht heute, wie im Vorspann ausführlich zitiert, ein in Israel lebender Jude. Rund fünfzig Millionen Deutsche, 1945 achtzehn oder mehr Jahre alt, sitzen auf der Anklagebank. Die Ankläger argumentieren, Millionen seien von Hitlers Schergen ermordet worden. Da müsse doch das Volk in seiner großen Mehrheit zumindest durch Kopfnicken und beifälliges Dulden mitgewirkt haben. Das ist eine plausible Vermutung. Aber kein Strafrecht der Welt kennt zu Lasten der Angeklagten eine unwiderlegliche Vermutung. Gerade bei Kapitalverbrechen ist eine sorgfältige Überprüfung des scheinbar Evidenten, ein akkurater Nachweis geboten.

Warum fehlt offenbar diese Überprüfung bis heute? Tabus und Verdrängungen beherrschen die veröffentlichte Meinung, offenbar aus der Sorge heraus, ein Verstoß gegen das von der Political Correctness vorgegebene Urteil könnte als Revisionismus mißdeutet werden und zur beruflichen wie gesellschaftlichen Ächtung führen. Die Stimmung ist entsprechend. Als Daniel Goldhagen, der Verfasser von "Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust" zur Präsentation eines neuen Buches in Deutschland weilte, da wurde ihm eine Aufmerksamkeit zuteil, wie sie einhundert seriöse Wissenschaftler zusammengenommen in ihrem ganzen Leben nicht für sich verbuchen können. Alle Blätter und Sender berichteten ausführlich.

Wer in dem mehr als 700 Seiten umfassenden Buch die Beweise für die Richtigkeit seiner ungeheuerlichen Anschuldigungen sucht, sucht vergeblich. Und dennoch wird der Mann, der so leichtfertig ein ganzes Volk mit Schuldvorwürfen überhäuft, von beachtlichen Teilen ebendieses Volkes mit Jubel empfangen!

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Kein Strafrecht der Welt kennt zu Lasten der Angeklagten eine unwiderlegliche Vermutung. Gerade bei Kapitalverbrechen ist eine sorgfältige Überprüfung des scheinbar Evidenten, ein akkurater Nachweis geboten.

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Gibt es wirklich keine Möglichkeit, die Tabus zu brechen, die Verdrängungen abzubauen, Licht in dieses unheimliche Kapitel der deutschen Geschichte hineinzutragen, die Annahme, die den Titel dieses Buches bildet, überzeugend zu untermauern oder zu falsifizieren?

Es gibt diese Möglichkeit. Sie hat zur Voraussetzung, daß wir die Zeitzeugen, die sich mit Tagebüchern, Briefen, Biographien, Erinnerungen, Fragebögen und Interviews anbieten, kritisch heranziehen und ihre Aussagen auswerten. Dieser Versuch soll im folgenden anhand aller aufgefundenen Dokumente unternommen werden, wobei insbesondere solche Aussagen Beachtung finden, die Rückschlüsse auf größere Teile der Bevölkerung zulassen.

Besonders glaubwürdige Zeitzeugen sind die Opfer, also hier die Juden, da sie kaum der Versuchung ausgesetzt sein dürften, aus Eigenliebe oder patriotischen Gefühlen heraus dem Umfeld der Täter Persilscheine auszustellen. Den Impuls dazu verdanke ich gerade dem eingangs schon erwähnten Victor Klemperer, der in diesem Zusammenhang wichtige Eigenschaften in ganz außergewöhnlicher Weise in sich vereinigt. Niemand sonst hat die Zeit, den Alltag, die Menschen des Alltags minutiöser beschrieben als er.

Neben Klemperer werden alle anderen jüdischen Zeitzeugen "befragt", die sich in Tagebüchern und Memoiren zum Thema Deutsche und Juden in der NS-Zeit geäußert haben und dem Autor zugänglich gewesen sind. Jede bewußt einseitige Auswahl des Gebotenen wird als wissenschaftswidrig prinzipiell abgelehnt. Die Verläßlichkeit der Informanten dürfte um so größer sein, je genauer die Schilderungen, je zeitnaher die Aufzeichnungen, je größer die Betroffenheit, je geringer die Versuchung, sich selbst ins rechte Licht zu setzen. Um tunlichst jede Entstellung durch Nacherzählung und indirekte Wiedergabe zu vermeiden, ist der chronologisch aufgebaute Teil des Buches, die erste Buchhälfte, bespickt mit Zitaten. Diesen Zitaten aus den Aufzeichnungen der Zeitzeugen gehen jeweils kürzere Kapitel voraus, in denen zunächst die Entwicklung des Deutschen Reiches allgemein, seine Judenpolitik und die Einstellung der Juden zum Reich dargestellt werden, um die Zeugenberichte verständlicher zu machen und in einen systematischen Rahmen einzufügen. Insoweit wird auf einschlägige Standardveröffentlichungen zurückgegriffen. Auf die Wiedergabe der jüdischen Zeitzeugen folgt eine Zusammenfassung und Abrundung durch nichtjüdische Autoren, meist unbestrittene Regimegegner.

Der zweite Teil befaßt sich zunächst mit jenen Stimmen, die den Resultaten aus dem ersten Teil widersprechen. Dann geht es um Wissen, Reden und Schweigen, die stille Hilfe und ihre Helden. Das folgende bietet Betrachtungen und Bewertungen relevanter gesellschaftlicher Gruppen und Kräfte jener Zeit: der Christen, des Widerstandes, des Auslandes. Abschließend: Wie lautet das Vermächtnis jüdischer Opfer? Haben wir es erfüllt? Sind wir auf dem rechten Wege? War das Volk ein Trost?

 

Prof. Dr. Konrad Löw, geboren 1931, lehrt seit 1975 Politikwissenschaften an der Universität Bayreuth. Seit 1999 ist er emeritiert. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Grundrechte, Marxismus, Kommunismus, Judentum, Antisemitismus. Am 5. März 2004 hielt der Jurist und Verfassungsrechtler auf Einladung der Gesellschaft für Deutschlandforschung im Roten Rathaus zu Berlin einen Vortrag über "Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte". Anfang April wurde der Text im Deutschland Archiv abgedruckt. Wenige Tage später sahen sich die Bundeszentrale für politische Bildung und der W. Bertelsmann Verlag als Verantwortliche der Zeitschrift veranlaßt, sich von dem Aufsatz zu distanzieren, die Makulierung des Heftes anzukündigen und sich bei allen Betroffenen zu entschuldigen. Die JUNGE FREIHEIT hat darauf diesen Aufsatz nachgedruckt (Nr. 17/04). In diesen Tagen erscheint im Münchner Olzog Verlag ein Buch Konrad Löws, in dem er diese Thematik vertieft: "Das Volk ist ein Trost. Deutsche und Juden 1933-1945 im Urteil der jüdischen Zeitzeugen." (384 Seiten, gebunden, 34 Euro). Der hier präsentierte Text ist ein Vorabdruck mit Auszügen aus der Einleitung.

 

Das Schlagwort "Tätervolk" an die Tafel geschrieben: "Trägt die große Mehrheit der damals lebenden Deutschen Mitschuld an diesem Megaverbrechen, ist es gar ein Volk von Verbrechern gewesen? Falls diese Annahme zutrifft, so stammen die meisten heute lebenden Deutschen von Verbrechern ab. Manches spricht dafür, daß nicht wenige diese Sicht verinnerlicht haben."


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