© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/05 16. Dezember 2005

Der gefesselte Leviathan
Europa: Auf dem Gipfel in Brüssel erweist sich die EU erneut als Fehlkonstruktion
Bruno Bandulet

Die Europäische Union ist ein irritierendes, in sich widersprüchliches, manchmal aber auch nützliches Gebilde: kein Staatenbund, aber auch kein Bundesstaat; ein Verbund von Demokratien, aber ohne saubere Gewaltenteilung in Brüssel; ein ernstzunehmender Konkurrent der Vereinigten Staaten in Welthandelsfragen und zugleich Protektorat der Supermacht; eine Gemeinschaft, die erbittert um Geld streiten kann und dann doch zu Kompromissen findet; ein Kontinent gemeinsamer Kultur mit beschränkter Handlungsfähigkeit.

Und sie ist Ausdruck eines Dilemmas aus deutscher Sicht: einerseits hat die europäische Einigung den Alptraum der Koalitionen beendet, der seit Bismarck auf Deutschland lastete; andererseits darf und muß dieses Deutschland den Zahlmeister spielen, um die Partner bei Laune zu halten. Allein in den Jahren 1995 bis 2003 alimentierte der deutsche Steuerzahler die EU mit 76,3 beziehungsweise 91,2 Milliarden Euro, je nachdem, ob man die sogenannten operationalen oder die allgemeinen Zahlungssalden zugrunde legt. Davon sind sämtliche Gelder, die aus Brüssel nach Deutschland zurückflossen, bereits abgezogen.

Daß diese Nettozahlungen ausgerechnet nach der Wiedervereinigung explodiert sind, ist Helmut Kohl zu verdanken. EU-interne Krisen pflegte er durch das Zücken des Scheckbuches beizulegen. Die Südeuropäer ließen sich erst die Zustimmung zum Beitritt Finnlands und Schwedens und dann auch noch ihr "Ja" zur Osterweiterung abkaufen. In dieser EU zahlt sich Erpressung aus: Allein im bereits erwähnten Zeitraum von 1995 bis 2003 kamen 53,3 Prozent aller operationalen Nettozahlungen aus Deutschland, und Spanien kassierte 45,1 Prozent der gesamten EU-Umverteilung. Ein andauernder Skandal, wenn man bedenkt, daß sich Berlin verschuldet und den Maastricht-Vertrag verletzt, um zahlen zu können, während der spanische Staatshaushalt einen Überschuß ausweist.

Auch der britische Vorschlag für den Finanzrahmen 2007 bis 2013, der gegenwärtig für allgemeine Aufregung sorgt, zog nicht die einzig vernünftige Konsequenz, die darin bestanden hätte, die Subventionen nicht nur deutlich zu reduzieren, sondern sie von Süd- auf Osteuropa umzulenken. Absehbar ist jetzt schon ein fauler Kompromiß, der der EU bis 2013 ein Haushaltsvolumen von nahezu 900 Milliarden Euro sichert. Da stellt sich die Frage, was wir eigentlich für unser Geld bekommen.

Dieselbe EU, die in ungebremster Regelungswut Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen, Empfehlungen und andere Maßnahmen produziert und damit zwei Millionen Seiten Papier pro Jahr füllt, ist nicht imstande, in der Weltpolitik mit einer Stimme zu sprechen. Sie verharrt auf dem Status eines US-Protektorats. Sie erlaubt Washington den Zugriff auf die Computer europäischer Fluggesellschaften. Sie akzeptiert amerikanische Zollbeamte an ihren Außengrenzen. Sie läßt zu, daß der amerikanische Geheimdienst seine Gefangenen kreuz und quer durch das Unionsgebiet transportiert. Und niemand stellt die Frage, warum und wozu die USA Militärstützpunkte in Europa unterhalten, die Europäer aber keine in den USA. Schließlich ist der Kalte Krieg vorbei, der Feind hat eingepackt.

Der in der EU zusammengeschlossene Teil Europas, obwohl wirtschaftlich und finanziell nicht schwächer als die USA, verfügt über keine Geostrategie, keine gemeinsame Verteidigungspolitik, keinen Willen zur Selbstbehauptung, nicht einmal ein tragfähiges Konzept zur Sicherung der Außengrenzen, die einem wachsenden Einwanderungsdruck aus der Dritten Welt ausgesetzt sind. Und die sich mit der EU überlappende Nato ist mehr denn je ein Dienstleistungsbetrieb amerikanischer Interessen, ein Werkzeugkasten der amerikanischen Außenpolitik, die es geschickt verstanden hat, die Europäer gegeneinander auszuspielen.

Die Loyalität nicht aller, aber vieler osteuropäischer Regierungen gilt Washington, aus Brüssel wird nur das Geld abgerufen. Als Angela Merkel bei ihrem kürzlichen Besuch in Warschau zum Termin mit dem Vorsitzenden der Regierungspartei vorfuhr, fand sie sein Büro leer. Die derzeitigen polnischen Machthaber haben ihre eigene Vorstellung davon, wem sie Respekt schulden. Aber sie haben ja Amerika im Rücken - ein Amerika, das gerade dabei ist, den gesamten osteuropäischen Raum nach eigenen Vorstellungen zu ordnen.

Zusammen mit Warschau betreibt Washington die Aufnahme der Ukraine in die Nato, sichert sich damit die Flottenbasen der Krim, vollendet die Einkreisung Rußlands und zementiert die für die eigene Weltmachtrolle unerläßliche Kontrolle Europas. Vervollständigt wird der Grand Design schließlich durch die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union und die endgültige Zerstörung der europäischen Identität.

Wäre ein vitales Europa notwendigerweise antiamerikanisch? Keineswegs. Dafür finden sich in der mehr als 200jährigen Geschichte der europäisch-amerikanischen Beziehungen zu viele Berührungspunkte und Schnittmengen. Dafür sind die kulturellen Gemeinsamkeiten zu groß. Die Alternative zur Subordination heißt nicht Feindschaft, sondern Partnerschaft. Und langfristig läge ein selbstbewußtes Europa auch im wohlverstandenen Interesse der USA.

Wie sollen die Europäer auf eine EU stolz sein können, die ihnen einen Europäischen Haftbefehl zumutet, die die nationalen Parlamente entmachtet, die durch anonyme, undurchschaubare Machtausübung Verdacht erregt?

Die Gefahr besteht nicht so sehr darin, daß die EU demnächst zerfällt (Bürokratien sind notorisch zählebig), sondern daß sie in eine Dauerkrise schlittert, daß sie nur noch Geld kostet. Der Kern der Misere liegt darin, daß die geopolitisch gebotene Einigung Europas eigentlich eine Führungsmacht voraussetzt, daß aber kein Land stark genug ist, diese Rolle zu übernehmen. Frankreich ist wirtschaftlich zu schwach dafür, und in Deutschland fehlt es am Selbstbewußtsein der Eliten - ganz abgesehen davon, daß das Reich früher einmal seine Chance hatte und sie unwiderruflich verspielte.

Ein vorstellbarer Ausweg aus der europäischen Misere läge darin, daß Deutschland und Frankreich sich noch stärker aneinander binden. Das liefe darauf hinaus, daß Europa verkleinert wird, um stärker werden zu können. Die deutsch-französische Union war ein Konzept, mit dem der späte Adenauer liebäugelte. Die Idee eines Kerneuropa ist nicht weit entfernt davon. Ein um Deutschland und Frankreich gruppierter europäischer Zusammenschluß scheint jetzt noch kaum realisierbar, könnte sich aber eines Tages als letzte Rückfallposition erweisen, wenn eine überdehnte EU aus ihrer selbstverschuldeten Sinn- und Existenzkrise nicht herausfindet.


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