© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/05 16. Dezember 2005

"Pessimistisch ist realistisch"
Janusz Lewandowski, Wirtschaftswissenschaftler und Vorsitzender des Haushaltsausschusses in Straßburg, über die EU-Krise
Moritz Schwarz

Herr Professor Lewandowski, wird die Europäische Union nach dem vorläufigen Scheitern der Verfassung im Juni nun mit dem drohenden Platzen der Haushaltsplanung für die Jahre 2007 bis 2013 auf dem Gipfel am Donnerstag und Freitag in Brüssel in die nächste Krise schlittern?

Lewandowski: Zumindest hat der Vorgang bisher die Atmosphäre des Zweifels und der Skepsis vertieft. Aber die Erfahrung zeigt, daß sich die EU stets durch Krisen weiterentwickelt hat. Eine gewisse Dialektik ist ihrer Geschichte nicht abzusprechen.

Der britische Außenminster Jack Straw gibt sich zugeknöpft, sein Land sei nicht bereit, einen Kompromiß "um jeden Preis" zu schließen. Und der deutsche Finanzminster Peer Steinbrück glaubt, daß auch der neue Vorschlag der britischen Ratspräsidentschaft nur "eine geringe Chance hat, in dieser Form von den Mitgliedstaaten akzeptiert zu werden".

Lewandowski: Man könnte das zugleich als eine pessimistische wie auch eine realistische Prognose bezeichnen. Die Briten haben von vornherein die Erwartungen gesenkt, weil sie offenbar gewillt sind, ihre Vorteile zu verteidigen. Man muß leider feststellen, daß Tony Blair auch als Inhaber der Ratspräsidentschaft sich vor allem als Vertreter der britischen, statt der europäischen Interessen versteht.

Könnte man das nicht auch als vorbildliche Pflichterfüllung betrachten? Schließlich ist er britischer Premierminister.

Lewandowski: Blair hat seine Ratspräsidentschaft vor einem halben Jahr mit einer glanzvollen, vollmundigen und zukunftsweisenden Rede begonnen. Er hat sich zu Fortschritten für die EU bekannt, für die nun nach dem britischen Haushaltsvorschlag von 847 Milliarden Euro kein Geld da ist. Da war die Rede davon, Europa zu einem leistungsfähigen Akteur auf dem internationalen Parkett zu machen, oder von Solidarität mit den neuen osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten. Nun wird offenbar, daß es ihm vor allem um die Wahrung des sogenannten "Briten-Rabattes" geht.

"Mehr politische Integration contra 'Mini-Europa'"

Kann man das Problem wirklich darauf reduzieren? Hat der Streit seine Ursache nicht vielmehr in einer Reihe von Versäumnissen und Mißständen? Bislang hat doch die EU Konflikte nicht ausgetragen, sondern mit immer neuen Geldleistungen an die Konfliktparteien überdeckt. Nun ist offenbar das Ende des so immer weiter wuchernden Verteilungssystems gekommen, und unter den versiegenden Geldströmen werden die alten Konfliktlinien wieder sichtbar.

Lewandowski: Was meinen Sie damit konkret?

EU-Kommissionspräsident Barroso kritisierte den britischen Haushaltsvorschlag mit den Worten, damit sei lediglich ein "Mini-Europa" möglich.

Lewandowski: Sie spielen darauf an, daß "Mini-Europa" nicht nur die Folge des britischen Haushaltsplanes bezeichnet, sondern auch Londons Motiv bei der Formulierung dieses Vorschlages?

Ist es nicht bezeichnend, daß nun die Wellen so hoch schlagen? Dabei unterschreitet Blairs Vorschlag den des damaligen luxemburgischen Ratspräsidenten Jean-Claude Juncker vom Juni lediglich um rund 23 Milliarden Euro. Dessen Planung allerdings unterbot die Forderung der Kommission um 155 Milliarden Euro! Luxemburg unterstellt man aber im Gegensatz zu Großbritannien keine Anti-EU-Haltung als Motiv. Geht es also gar nicht ums Geld, sondern um den lange verdeckten Zielkonflikt zwischen europäischen Föderalisten und europäischen Konföderalisten, der in der Haushaltsfrage nun wieder zum Vorschein kommt?

Lewandowski: Natürlich stimmt es, daß hinter der britischen Haltung auch unterschiedliche Auffassungen über die Ziele der EU stecken. Natürlich drückt sich in dem Konflikt auch der Gegensatz eines Mehr an politischer Integration einerseits und eines "Mini-Europa", also einer losen, vor allem von einem gemeinsamen freien Markt getragenen Allianz andererseits aus. Dennoch ändert das nichts daran, daß nie zuvor in der Geschichte der EU eine Ratspräsidentschaft einen Haushaltsvorschlag unterbreitet hat, der so offensichtlich und eindeutig von der nationalen Innenpolitik statt von europäischen Interessen geprägt war.

Was ist mit den übrigen Bruchlinien, die nun wieder sichtbar werden: der Konflikt um die längst obsolet gewordenen Hilfen für die Südländer wie Spanien, Portugal oder Griechenland, die nach wie vor rund 80 Prozent der Agrarmittel und etwa 50 Prozent der Strukturhilfen bekommen? Oder zwischen den alten und den neuen, osteuropäischen EU-Ländern, die laut britischem Vorschlag mit 16 Milliarden weniger auskommen müssen, während zum Beispiel Frankreichs Agrarhilfe unangetastet bleibt?

Lewandowski: In der Tat ist die optimistische Dekade der neunziger Jahre mit ihrer Solidarität offenbar vorbei. Heute treffen wir Osteuropäer nach unserem langen und schwierigen Weg zur Mitgliedschaft in der EU diese in einem anderen Zustand an, als wir uns das einst hinter dem Eisernen Vorhang vorgestellt haben. Dabei haben die neuen, dynamischen Ökonomien in Osteuropa viel Sympathie für das marktwirtschaftlich orientierte Modell. Der Vorschlag der gegenwärtigen Ratspräsidentschaft bedeutet jedoch ein Sparen auf Kosten der Armen. Das ist - um im englischen Bilde zu bleiben - ein Widerspruch wie zwischen dem Sheriff von Nottingham and Robin Hood. Ganz abgesehen davon haben die Briten mit ihrem Angebot ihren Vorteil, den Briten-Rabatt grundsätzlich zu erhalten, freiwillig aber acht Milliarden mehr zu zahlen, wenn der Haushalt insgesamt gekürzt wird, ein neues Prinzip eingeführt, das der Großzügigkeit. Klingt gut, stellt aber tatsächlich einen Abschied vom bisherigen verbindlichen Finanzierungssystem dar. Das wäre der Sündenfall wider das Budget.

Müßte allerdings nicht gerade Polen mit seiner neuen nationalkonservativ ausgerichteten Regierung grundsätzlich viel Sympathie für das britische Mini-Europa haben?

Lewandowski: Die neue polnische Regierung ist nicht so euroskeptisch, wie es im Wahlkampf den Anschein gehabt haben mag. Natürlich haben die Länder, die erst vor wenigen Jahren ihre Souveränität wiedergewonnen haben, heute ein gewisses psychologisches Problem, Kompetenzen an Brüssel zu delegieren. Andererseits wissen auch Polen und Tschechen, daß wir eine funktionierende EU brauchen, weil dies schließlich allen zugute kommt. Natürlich genoß Großbritannien aus verschiedenen Gründen bislang einige Sympathien etwa in Polen. Aber London ist offenbar gewillt, die durch seine restriktive Haushaltspolitik gegenüber den Osteuropäern entstehenden "geopolitischen Kosten" in Kauf zu nehmen.

"Graduelle Veränderungen statt revolutionärer Umstürze"

Warum verstehen Sie den britischen Vorschlag - auch wenn Sie ihn im Detail zu Recht kritisieren mögen - mit seinem Zwang, sich den vielen verschleppten Krisen endlich stellen zu müssen, generell nicht als Chance?

Lewandowski: Sicher, ich bin pragmatisch und versuche auch das Positive zu sehen. Natürlich löst der Vorschlag einen Dualismus aus. Aber sehen Sie, wir Osteuropäer haben die Revolution "gerade" hinter uns gebracht. Deshalb wohl bevorzugen wir nun graduelle Veränderungen gegenüber revolutionären Umstürzen. Gerade die Deutschen sollten dafür Verständnis haben, nachdem sie im eigenen Lande erleben, wie schwierig der Wandel von einer kommunistischen in eine marktwirtschaftliche Gesellschaft ist.

Ob begrüßt oder nicht - wird die Situation nicht zwangsläufig zu einer Debatte über politische Zielvorstellungen führen?

Lewandowski: Es wäre in der Tat die beste Gelegenheit, eine Debatte über die Institutionen zu beginnen. Aber ich glaube, daß das eine Diskussion der Eliten ist. Das ist nichts, was den einfachen Bürger beschäftigt. Die Thematik ist zu komplex.

Legt die offensichtliche Unzufriedenheit möglicherweise der Mehrheit der EU-Bürger nicht nahe, daß durchaus Bedarf füreine solche Debatte besteht, wie das Ergebnis der Volksabstimmungen in Frankreich und Holland in diesem Sommer gezeigt haben?

Lewandowski: Das Problem ist, daß bei den Bürgern oftmals Stereotypen über die Vorteile, die Europa tatsächlich bringt, dominieren. Eine dieser Stereotypen ist, daß alte EU-Länder erst für die Osterweiterung bezahlen mußten und dann auch noch Arbeitsplätze an die neuen Staaten verlieren. Solche Vorstellungen waren die eigentliche Ursache für die verfehlten Abstimmungen über die EU-Verfassung. Tatsächlich aber haben wir doch eher eine Win-Win-Situation, das heißt, daß beide, alte und neue EU-Staaten von der Entwicklung profitieren. Die Leute vergessen nämlich, daß die Globalisierung den Nationalstaat schwächt und er demzufolge heute gar nicht mehr in der Lage ist, seine Bürger umfassend zu schützen. Ein Mini-Europa kann aber nicht die Leistung erbringen, die Europa als Folge dieser künftig wird erbringen müssen.

Mit einem überdehnten und veralteten Budgetsystem? Wäre ein Mini-Europa nicht leistungsfähiger als ein gelähmter "Brüsseler Riese"?

Lewandowski: Möglicherweise sollte das Verteilungssystem differenzierter gestaltet werden. Aber ich wiederhole, daß ich vor revolutionären Veränderungen zurückschrecke. Eine revolutionäre Umgestaltung der Agrarpolitik wäre zum Beispiel eine Provokation Frankreichs. Oder nehmen Sie die Erschließung eigener Ressourcen durch die EU, sprich eine europäische Steuer: Dies wäre wohl überall in der EU im Volke unpopulär. Nein, revolutionäre Veränderungen - nehmen Sie die Verfassung als Beispiel - verursachen Frustrationen, die der Entwicklung der EU-Maschinerie letztlich nicht dienen.

Die Konsequenz: Zeigt sich ein Fehler in der Konstruktion, haben wir ihn konsequent zu konservieren?

Lewandowski: Nein, aber mir scheint, daß jeder Versuch, über die derzeit getroffenen Vereinbarungen hinauszugehen, nur zu neune Spannungen, nicht aber zu Lösungen führen wird. Wir dürfen dabei übrigens nicht vergessen, daß das bisherige System auch Erfolge erzielt hat: Zum Beispiel was die Entwicklung der Regionalstruktur in Irland, Spanien oder Portugal angeht.

Für die gegenwärtige Haushaltskrise bedeutet das also, daß Sie auf die Ablösung der Briten bei der Ratspräsidentschaft durch Österreich im Januar setzen?

Lewandowski: Wir stehen in Kontakt mit den Vertretern Österreichs, und daher weiß ich, daß ihnen sehr daran gelegen wäre, für die generelle Frage noch im Dezember eine Einigung zu finden. Allerdings wurde bereits der letzte gültige Haushaltsplan als last minute-Beschluß gebilligt, und diese Option besteht auch diesmal. Ich sehe also für die Österreicher noch einen zeitlichen Puffer bis März 2006.

 

Prof. Dr. Janusz Lewandowski: Der Wirtschaftswissenschaftler war zweimal Minister für Privatisierung in Warschau und ist heute Vorsitzender des Haushaltsausschusses des Europäischen Parlaments. Er gehört der derzeit größten Oppositionspartei in Polen, der wirtschaftsliberalkonservativen Platforma Obywatelska (Bürgerplattform), an und ist damit Mitglied der christdemokratischen Fraktion der Europäischen Volkspartei/Europäische Demokraten (EVP/DE), deren Vorstand er angehört. Geboren wurde Lewandowski 1951 in Lublin.

 

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