© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/05 16. Dezember 2005

Eine gesamtdeutsche Kloake
Stasi-Erbe: Der Fall des Journalisten Hagen Boßdorf zeigt die Untiefen in der Auseinandersetzung mit einem Unrechtsregime
Thorsten Hinz

Der Ruf des wegen Stasi-Kontakten in die Schlagzeilen geratenen Sportjournalisten Hagen Boßdorf ist auf jeden Fall ramponiert. Wahrscheinlich wird er seine Arbeit als Sportchef des NDR verlieren, ehe er sie überhaupt aufnehmen kann. (Die Entscheidung darüber fiel erst nach Redaktionsschluß.) SED-Opfer werden den Vorgang verständlicherweise mit Genugtuung registrieren, der NDR wird ihn nutzen, um das System demokratischer Kontrolle und Selbstkontrolle im eigenen Haus zu erläutern, und der Birthler-Behörde bietet er Gelegenheit, ihre Unentbehrlichkeit herauszustreichen. Doch in welchem Umfang ist der "Fall Boßdorf" überhaupt einer?

Es ist bequem, das Banale zu dämonisieren

Die Fakten, soweit sie auf dem Tisch liegen: Hagen Boßdorf (41) hat von 1986 bis 1990 in Leipzig Journalistik studiert. Von 1988 bis 1989 führte er Gespräche mit Offizieren der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA). Es handelt sich um die Auslandsabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Das hat er nie bestritten. Er hat Beurteilungen über westdeutsche Publizistik-Studenten geliefert, die im Frühjahr 1988 ihre Leipziger Kommilitonen besuchten. In seiner Stasi-Akte befinden sich Abschriften von Privatbriefen, die eine Göttinger Studentin an ihn gerichtet hatte. Boßdorf bestreitet, sie weitergegeben zu haben. Wer weiß. Tatsächlich war es eine der leichtesten Übungen der Stasi, Westpost abzufangen, zu kopieren und anschließend an den Adressaten weiterzusenden - oder auch nicht. Eine Verpflichtungserklärung als "IM" bestreitet er, sie liegt auch nicht vor.

Ende Mai 1989 besprach Boßdorf mit zwei Stasi-Offizieren die "Aufrechterhaltung bzw. Gestaltung des Kontaktes" in die Bundesrepublik. Zu diesem Zeitpunkt war die Atmosphäre in Leipzig überaus angespannt. Die montäglichen Friedensgebete zogen immer größere Kreise, das Polizeiaufgebot in der Innenstadt wurde massiver. Unter den Studenten wurde die Ankündigung Ungarns diskutiert, für seine Bürger die Grenze zum Westen zu öffnen. Es war klar, daß damit die DDR unter Zugzwang stand. Man schwankte zwischen der Hoffnung auf eine Gesellschaftsreform mit offenem Ausgang und der Furcht vor einem blutigen Gewaltschlag.

Auf jeden Fall war es unklug, sich noch allzu eng mit den Staatsorganen einzulassen. Boßdorfs Verhalten zeugt deshalb eher von Naivität, Furcht oder Schwäche als von kalter Berechnung. Seine fachliche Professionalität, die ihn zum Sportkoordinator der ARD aufgestiegen ließ, ist gepaart mit moralischer und politischer Anpassungsfähigkeit und jener typischen Halbklugheit, die ins Grundsätzliche reichenden Reflexionen im Weg steht. Das ergibt eine Charakterstruktur, die wohl die Voraussetzung ist für eine Karriere im Fernsehbetrieb. Boßdorf ist kein Unterteufel Erich Mielkes, er ist bloß der Ost-Cousin von Beckmann, Kerner und Pilawa.

Eine Diskussion darüber könnte interessant und nützlich sein. Sie wäre aber auch schmerzhaft, weil sie Illusionen über das moralische und intellektuelle Niveau in der aktuellen freiheitlich-demokratischen Grundordnung zerstören würde. Bequemer ist es, das Banale zu dämonisieren. Schon wird der Eintritt in das Wachregiment "Feliks Dzierszynski", das dem MfS unterstand, als Beginn einer "Stasi-Karriere" Boßdorfs gedeutet.

Man muß wissen: Im paranoiden DDR-Staat galt alles mögliche als sicherheitsrelevant und gehörte damit mittel- oder unmittelbar zum Aufgabenbereich der Stasi. Außer der Unterdrückung der Opposition waren das beispielsweise die Bereiche Luftverschmutzung, Schweinepest oder Außenhandel. Harmlose Hygieneinspektoren, Tierärzte oder Kaufleute gerieten ganz leicht in Kontakt mit der Stasi, ohne das zu wissen, zu wollen oder steuern zu können. Erst recht zählten der Wachschutz für öffentliche Gebäude und das Paradieren bei Staatsempfängen dazu.

Um in das Wachregiment zu kommen, mußte man nicht zwingend der SED angehören. Man sollte nur nicht begriffsstutzig und politisch negativ aufgefallen sein (was sich für künftige Studenten von selbst verstand), man sollte gut gewachsen sein (Boßdorf war Leistungssportler) und ein niedliches Gesicht haben. Im Rundfunkstudio der Armee konnte Boßdorf Erfahrungen für Studium und Beruf sammeln, was natürlich bequemer war, als durch den Schlamm zu robben. Er hat sich nach DDR-Maßstäben politisch korrekt verhalten und seinen Vorteil davon gehabt.

Natürlich ist es ein Vertrauensbruch, über eine junge Frau, die sich in ihn verliebt hatte, zu vermerken, sie habe "breite Hüften, ein etwas unschönes Gebiß", sie sei "aber freundlich und naiv" - doch haben sich BND-Romeos bei ihren Einsätzen taktvoller geäußert?

Der NDR hat sich bis vor kurzem auf den Standpunkt gestellt, Boßdorf habe ausschließlich über Bundesbürger, nicht über Bürger der DDR berichtet. Das ist deshalb ein entscheidender Unterschied, weil die Bundesrepublik nach DDR-Gesetzen als Ausland galt und Auslandsspionage das natürliche Recht eines jeden Staates ist.

Wenn Jochen Schmidt, stellvertretender Landesbeauftragter für Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern, dagegen behauptet, es mache keinen Unterschied, ob jemand die Stasi über Westdeutsche oder über DDR-Bürger informiert habe, müßte er diese Aussage fairerweise auch auf Angehörige oder Informanten westlicher Gedheimdienste übertragen. Natürlich tut er das nicht, was Boßdorfs Behauptung in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 7. Dezember, die Birthler-Behörde sei ein "Jagdverein gegen Ostdeutsche", ins Licht seiner Betroffenenperspektive taucht. Die Ein- beziehungsweise Auslassung Schmidts bedeutet eine Enthistorisierung der innerdeutschen Verhältnisse. Möglicherweise liegt darin der tiefere staatspolitische Sinn der andauernden Stasi-Bewältigung.

Virulenz, Intensität, Einseitigkeit und Simplizität der Stasi-Diskussionen, die sich von der Zurückhaltung zu diesem Thema in den ehemaligen Ostblock-Staaten auffällig unterscheiden, hängen mit der deutschen Teilung zusammen. Es gab zwei deutsche Staaten, die sich jahrzehntelang feindlich gegenüberstanden und mindestens bis zur Ostpolitik Willy Brandts gegenseitig die Legitimität bestritten. Der "Kalte Krieg" zwischen Ost und West war in Deutschland ein "Kalter Bürgerkrieg", der nicht nur von der DDR, sondern auch von der Bundesrepublik mit wütender Intensität bestritten wurde. Bürgerkriegsparteien wollen keinen Kompromiß, sondern den Sieg, um am Ende mit dem Staat als identisch anerkannt zu werden.

Die feindlichen Energien leiteten sich aus den Legitimationsdefiziten der zwei Teilstaaten her, die beide statt aus souveränen Gründungsakten aus dem Willen ihrer Besatzungsmächte geboren wurden. Um diesen Makel auszulöschen und als einzig wahrer deutscher Staat zu erscheinen, mußten DDR und Bundesrepublik den jeweils anderen Teilstaat juristisch, politisch und kulturell diskreditieren - mit dem gewichtigen Unterschied, daß die Bundesrepublik den im Grundgestez verankerten Auftrag zur Wiedervereinigung hatte. Statt unterhalb der Ebene der staatlichen Einheit, die gegen den Willen der Siegermächte unmöglich war, auf einer innerdeutschen Arbeitsebene für eine Milderung der Teilungsfolgen zu sorgen, erwiesen die Politiker in Bonn und Ost-Berlin sich als Wachs in den Händen der jeweiligen Siegermächte und manövrierten ihre Staaten in die ihnen zugedachte Rollen als Speerspitzen des Ost-West-Konflikts.

Die DDR blieb der Rückgriff auf die Geheimpolizei

Die Geheimdienste spielten in dieser Auseinandersetzung eine besondere Rolle - auch im Westen. Von hier aus erklären sich Einfluß und Definitionsmacht, die der Verfassungsschutz auf die Meinungssteuerung und die Definition des "Verfassungsbogens" bis heute ausübt, offener als in jeder anderen europäischen Demokratie. Während aber die Bundesrepublik sich wirtschaftlich und politisch bald als zukunftsträchtiges Modell erwies und mit dem Wirtschaftswunder ihr Legitimationsdefizit kompensierte, blieb der kleineren, mit einem unmöglichen Wirtschafts- und Staatssystem überzogenen DDR, um sich im deutsch-deutschen Bruderkampf zu behaupten, nur der Rückgriff auf die rigiden Methoden der Geheimpolizei. 1957 wurde der im Geheimapparat der KPD sozialisierte und politisierte Erich Mielke Minister für Staatssicherheit. Der Rest ist weitgehend bekannt.

Um ihren Anteil an dieser Entwicklung und dem Geburtsfehler, dem sie entspringt, zu verbergen, wird in der heutigen Bundesrepublik die Stasi der DDR zum mythischen, der historischen Situation enthobenen Ereignis verklärt. Daß die Stasi vor allem auch eine widerliche Kloake war, ist unbestritten, aber sie war eine gesamtdeutsche.

 

Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte Germanistik in Leipzig. Heute lebt er als freier Autor in Berlin.

 

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