© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/05 16. Dezember 2005

Kaufrausch im Bunker
Alles sehen, alles hören, alles kontrollieren: Der Weg in den Überwachungsstaat kann nur zum Totalitarismus führen
Alain de Benoist

Von den Möglichkeiten der Überwachung und Kontrolle, die den westlichen Gesellschaften heutzutage zur Verfügung stehen, hätten die totalitären Regime der Vergangenheit nur träumen können. Jeden Tag machen sie ein bißchen mehr davon Gebrauch. Diese Überwachung geht Hand in Hand mit der "politischen Korrektheit", die durch sprachlichen Zwang die Meinung zu normieren versucht, mit dem "Einheitsdenken", das die Debatte durch die Predigt ersetzt, mit dem überhandnehmenden Hygienismus (Rauchverbote, Kampagnen gegen gesundheitsschädigendes Verhalten), mit den der Meinungsfreiheit völlig zuwiderlaufenden Bestrebungen, menschliche Lebensgewohnheiten bis hin zu Vorlieben und Abneigungen durch gesetzliche Vorschriften zu regeln; schließlich mit der Propaganda, die sich heute Werbung nennt.

In den letzten Jahren hat sich die Sicherheit zu einem wesentlichen politischen Anliegen entwickelt. Dieses Anliegen zu erfüllen, ohne die Freiheiten zu beeinträchtigen, ist ein altes Problem. In der "Risikogesellschaft" läßt der tatsächliche oder vermeintliche Mangel an Sicherheit ein Klima der Ungewißheit und der Angst entstehen, das alle möglichen Wahnvorstellungen gebiert. Der Sicherheitsapparat nutzt dieses Klima, um die Gesellschaft unter ständige Überwachung zu stellen.

Nach dem Untergang der klassischen Totalitarismen haben sich andere, subtilere Ordnungen der Unterwürfigkeit und Herrschaft gebildet, komplexe Verkettungen von Verboten und Verordnungen, die ihre Rechtfertigung aus den allgegenwärtigen Bedrohungen beziehen. Die Vorwände sind stets vorzüglich: Es geht um Verbrechensbekämpfung, Gesundheitsvorsorge, Sicherheitsvorkehrungen, bessere Kontrolle der illegalen Einwanderung, Jugendschutz, den Kampf gegen "Cyberkriminalität" etc. Die Erfahrung zeigt jedoch, daß Maßnahmen, die anfangs gegen einen kleinen Teil der Bevölkerung angewandt werden, sich später immer gegen die Gesamtheit der Bürger richten. Hat sich das Prinzip erst einmal durchgesetzt, wird es zwangsläufig verallgemeinert.

Gegen unsichtbare Feinde hilft nur totale Mobilmachung

"Seit einigen Jahren versucht man uns zu überzeugen", schreibt der Philosoph Giorgio Agamben, "Verfahren der Kontrolle als menschliche und gewöhnliche Dimensionen unserer Existenz zu akzeptieren, die stets als außergewöhnlich und im eigentlichen Sinne unmenschlich galten." Das Problem ist, daß die Menschen zu jeder Zeit bereit waren, ihre Freiheiten aufzugeben, wenn sie dadurch ihre Sicherheit gewährleistet sahen. Der "Kampf gegen den Terrorismus" veranschaulicht das beispielhaft. Er ermöglicht die Erklärung eines permanenten Ausnahmezustandes auf globaler Ebene.

In den USA haben die Angriffe vom September 2001 in unmittelbarer Konsequenz zu enormen Einschränkungen der öffentlichen Freiheiten geführt. Dieses Modell macht derzeit Schule. Durch seine Allgegenwärtigkeit löst der Terrorismus ungemein profitable und ausbeutungsfähige Ängste aus. Gegen den unsichtbaren Feind hilft nur die totale Mobilmachung, denn in einer solchen Situation fällt der Verdacht unweigerlich auf jeden. Der Kampf gegen den Terrorismus erlaubt der Staatsmacht, ihre eigene Zivilgesellschaft mindestens so sehr zu drangsalieren wie diejenigen, die sie als ihre Feinde ausmacht. Entsprechend läßt sich der Terrorismus über seine unmittelbare Realität hinaus als Verursacher eines in politisches Kapital umwandelbaren Terrors definieren, von dem seine Urheber weniger profitieren als vielmehr diejenigen, die sich seiner als Vogelscheuche bedienen, um Kontrolle über ihre eigenen Mitbürger auszuüben.

Immer mehr Räume sind der Öffentlichkeit unzugänglich

Das Ideal der "Transparenz", das sich die liberalen Demokratien in ihrer Abneigung gegen jegliche gesellschaftliche Undurchschaubarkeit zu eigen gemacht haben, läßt sich einzig durch eine engmaschige soziale Kontrolle verwirklichen. So verwandelt sich die Gesellschaft in einen durch Mitgliedsausweisen, Paßwörter und Überwachungskameras geschützten Bunker. Immer mehr Räume sind aus Sicherheitsgründen der Öffentlichkeit nicht zugänglich, was die Durchlässigkeit zwischen den gesellschaftlichen Schichten beeinträchtigt und letztlich zum Verlust jedweden Begriffs von öffentlichem Raum - und damit von Staatsbürgerschaft - führen wird. An seine Stelle tritt ein Panoptikum, das in mancher Hinsicht furchterregender ist als das von Jeremy Bentham entworfene, aber dieselbe Funktion erfüllt: alles zu sehen, alles zu hören, alles zu kontrollieren.

In einer Gesellschaft, die sozialen Problemen einzig durch "psychologischen Beistand" beizukommen glaubt und in ihrer einfältigen Dialogversessenheit alles für verhandelbar und durch Diskussion lösbar hält, wird Konformität oder "Monochromie" (Xavier Raufer) mit derselben Methode herbeigeführt wie in der Informatik die Formatierung einer Festplatte: Software und Programme, die nicht bestimmten Kompatibilitätskriterien entsprechen, werden nicht angenommen. Somit wird ersichtlich, warum die herrschende Ideologie lieber von "Rechten" als von "Freiheiten" spricht. Zur Installation eines neuen Rechts gehört zwangsläufig die unbegrenzte Kontrolle über seine Anwendung.

Die Marktgesellschaft verherrlicht den ewigen Jugendlichen, der einem ständigen Kaufrausch verfallen ist: Ware als Droge. In der Triebökonomie wird Energie in Bewegung um der Bewegung willen verwandelt, in Vergnügungssucht. Diese Ablenkung im Pascalschen Wortsinn lenkt tatsächlich ab: nämlich vom Wesentlichen, und trägt damit zur Entäußerung des Selbst bei. Das Rezept ist einfach: uns einerseits Angst einzujagen, andererseits zu unterhalten, das heißt zur Ablenkung vom Wesentlichen zu verführen, zu verhindern, daß wir uns eigene Gedanken machen und kritischen Geist zeigen; alles zu tun, damit die Menschen produzieren und konsumieren, ohne nach dem zu fragen, was über ihre unmittelbaren Wünsche und Sorgen hinausgeht, ohne sich jemals für ein kollektives Projekt zu engagieren, das ihnen zu mehr Autonomie verhelfen könnte. Derart gebändigt, wird die Gesellschaft zu jener "Herde ängstlicher und fleißiger Tiere", von der Tocqueville sprach. Es ist das Ideal der Geflügelzucht in Legebatterien.

Am augenfälligsten daran ist der Zusammenhang zwischen dem Autoritätsverlust und der politischen Redundanz des Nationalstaates einerseits und der Verstärkung seines Unterdrückungsapparates andererseits. Je mehr er sich aus dem wirtschaftlichen und sozialen Bereich zurückzieht, desto mehr sucht der Staat seine Bürger durch das Erlassen von Gesetzen zu kontrollieren. Sein Vorteil ist, daß er in Fragen der Sicherheit nicht verpflichtet ist, Resultate zu erzielen. Mehr noch, er hat kein Interesse an allzu großen Erfolgen, denn nur so kann er die Fortführung seiner Politik der Kontrolle und Überwachung rechtfertigen: "Eine Regierung, die sich die totale Sicherheit auf die Fahnen geschrieben hat, wird nicht wiedergewählt, weil sie es geschafft hat, die Unsicherheit zu reduzieren. Sie wird wiedergewählt, weil die Unsicherheit anhält" (Percy Kemp). Das wahre Ziel besteht also weniger darin, die Unsicherheit zu beseitigen - was jenen, die von ihr profitieren, wenig nützt -, als darin, ihren Fortbestand zu sichern, um eine immer breiter angelegte Überwachung möglich zu machen.

Im Grunde geht es darum, ein latentes Chaos zu stiften, das eine bestimmte Schwelle nicht überschreitet, aber ausreicht, jede Anwandlung einer kollektiven Reaktion zu unterbinden. Dieselbe Taktik fand einst gegen die "Bedrohung durch den Klassenfeind" Anwendung, mit dem heimlichen Ziel, die Abweichler und Andersdenkenden zu vernichten. Heute sind es die Völker selber, die in den Augen des Kapitalismus und der herrschenden Oligarchien weltweit zum "Klassenfeind" geworden sind. Die Völker gilt es in Schach zu halten. Um sie an der Durchsetzung ihrer kollektiven Emanzipations- und Autonomiebestrebungen zu hindern, genügt es, ihnen Angst einzujagen. Diesen Zweck erfüllt das Panoptikum. "Wenn es kein körperliches Martyrium ist", sagte Péguy, "sind es die Seelen, die nicht mehr atmen können."

Foto: Polizei-Überwachung mit Videokameras auf dem Domplatz im oberpfälzischen Regensburg: Aus der Agora wird das Panoptikum

 

Alain de Benoist ist Herausgeber der Zeitschrift "Éléments". 

 

Die Übersetzung aus dem Französischen besorgte Silke Lührmann.


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