© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/06 06. Januar 2006

Kolumne
Soll und Haben
Klaus Motschmann

Der Jahreswechsel ist Anlaß, Bilanz zu ziehen. Dabei wird uns bewußt, daß "Soll und Haben" erheblich voneinander abweichen. Vieles ist anders verlaufen, als es uns Ideologen und Futurologen, große und kleine Propheten aller Art zu Beginn des Jahres geweissagt haben. Weder im Blick auf das hohe Maß der Arbeitslosigkeit und der Staatsverschuldung, weder im Blick auf die prekäre Situation der Kranken- und Rentenversicherung, weder im Blick auf die hohe Zahl der "legalen" Abtreibungen (2005 abermals 130.000!) noch auf die statistisch nur unzureichend erfaßbaren Probleme unserer Bildungspolitik lassen sich realistische Ansätze für dauerhafte, menschenwürdige Lösungen erkennen. Die Folge ist ein weiteres Umsichgreifen von Enttäuschungen, Verdrossenheit und Resignation.

Enttäuschungen erklären sich am besten aus Täuschungen. Dabei ist nicht in einem sehr vordergründigen Sinn an nicht eingehaltene Wahlversprechen dieser oder jener Partei zu denken, sondern an die verhängnisvolle Fehleinschätzung der Möglichkeiten, sie unter den gegebenen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umständen zu erfüllen. In den vielen Neujahrsbotschaften ist immer wieder von "neuen Ideen" die Rede, von technischen Innovationen und sozialpolitischen Konzeptionen, die einen Ausweg aus den Problemen unserer Zeit verheißen sollen. Dabei werden die Erfahrungen der Geschichte übersehen. Sie besagen, daß die Lösung dieser Probleme nicht in menschlicher Eigenmacht in den sogenannten "Haben"-Strukturen eines rein innerweltlichen Daseins- und Weltverständnisses gefunden werden können, wie es etwa in der Hymne der DDR zum Ausdruck kam: "... und der eigenen Kraft vertrauend, steigt ein frei Geschlecht empor". Warum werden diese Erfahrungen nicht deutlich benannt, um vor Nachahmungen zu warnen?

Es ist nicht zu bestreiten, daß die Einsicht in die Notwendigkeit eines radikalen Wandels der Einstellungen in unserem Volke wächst. Dennoch ist mit einer grundsätzlichen Neuorientierung der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entscheidung nicht zu rechnen. Die dafür Verantwortlichen sind in der Mehrheit nicht bereit, auf dem eingeschlagenen Irrweg menschlicher Selbsterlösungsideen umzukehren. Als ein Beispiel für diesen ungebrochenen Glauben an die Macht ideologischer Systeme sei nur an den massiven Widerstand gegen die Aufnahme des Gottesbezuges in die europäische Verfassung erinnert. Damit wurde ein deutliches Zeichen gesetzt. Hoffentlich wird es auch von möglichst vielen Menschen verstanden.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen