© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/06 13. Januar 2006

Ein europäisches Symbol
Frankreich: Gewalt an der Côte d'Azur / 425 brennende Autos an Silvester / Ende des Ausnahmezustands
Jean-Marie Dumont

Für etwa 600 Franzosen hätte das neue Jahr besser anfangen können. Am Neujahrsmorgen stiegen mehrere Dutzend Jugendliche in Nizza in den Zug nach Lyon ein. Als der Zug zwischen Cannes und Marseille durch die malerische Mittelmeeer-Landschaft fährt, marodieren die 15- bis 20jährigen durch die Abteile: Sie bedrohen und schlagen die Fahrgäste, nehmen ihnen ihre Mobiltelefone und Geldbörsen ab, zerstören Sitze und Einrichtung. Das Ganze dauert keine Stunde. Im Bahnhof von Les Arcs bringt der Schaffner den Zug zum Stehen. Dennoch vergeht eine Weile, bevor 30 Bereitschaftspolizisten aus verschiedenen Kasernen eintreffen. Bis sie da sind, sind fast alle Täter geflüchtet. Die Sicherheitskräfte nehmen nur noch drei Verdächtige maghrebinischer Herkunft fest.

Andernorts mußten die Behörden die ganze Silvesternacht wieder gegen Pyromanen kämpfen: Trotz zahlreicher Polizisten und des geltenden Ausnahmezustandes wurden zum Jahreswechsel landesweit 425 Autos in Brand gesteckt - allein in den Pariser Banlieues waren es 137. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Zahl der Brandanschläge um 27,6 Prozent gestiegen: In der Silvesternacht 2004/2005 waren "nur" 333 Autos in Brand gesetzt worden. Die französische Regierung hatte rund 25.000 Polizisten und Gendarmen mobilisiert - allein in Paris 4.500. Für das Elsaß, wo solche Brandanschläge in der Silvesternacht seit Jahren zu einem "Ritual" von "Jugendlichen mit Migrationshintergrund" (wie man in Deutschland sagen würde) geworden sind, war es eine relativ "ruhige" Nacht - "nur" 19 abgebrannte Autos wurden diesmal in der Europastadt Straßburg gemeldet.

Eine Rückkehr der Banlieues-Revolte, wie sie die Regierung befürchtete, wurde jedoch vermieden. Im Oktober und November hatten jugendliche Randalierer zwanzig Tage und Nächte lang Tausende von Autos und etwa 300 Gebäude - Schulen, Sporthallen, Firmen und Privathäuser - in Brand gesteckt (JF 46/05). Nach drei Wochen sank die Zahl der in Brand gesetzten Autos. Aber sie bleibt hoch und gehört zum Alltag. In ganz Frankreich werden jeden Tag zwischen 40 und 80 Brandanschläge auf Autos gemeldet.

Trotz dieser Zahlen hält die regierende bürgerliche UMP die Revolte für beendet. Staatspräsident Jacques Chirac hat daher am 2. Januar entschieden, den Ausnahmezustand ab 4. Januar aufzuheben. Der Ausnahmezustand, der auf einem im Jahre 1955 zur Zeit des Algerienskrieges verabschiedeten Gesetz beruhte, dauerte seit zwei Monaten an und war wegen der Vorstadt-Krawalle verhängt worden. Er erlaubte den Behörden, Ausgangssperren zu benutzen, um die Gewalt in den Banlieues zu begrenzen. Der Verlängerung des Ausnahmezustands für maximal drei Monate hatte das Parlament - trotz Kritik der Links-Opposition - am 15. November zugestimmt. Da die Silvesternacht kein Wiederaufflammen der Krawalle auslöste und sich im "üblichen" Rahmen bewegte, hielt die französische Regierung den Ausnahmezustand für entbehrlich.

Die rechtskonservative Partei MPF des EU-Abgeordneten Philippe de Villiers hat diese Entscheidung kritisiert und als "schlimmen Irrtum" bezeichnet: "Was sollen die einfachen Franzosen denken, die jeden Tag brennende Auto sehen?" Chirac lasse die Franzosen im Stich, die jetzt die Sicherheit ihres Eigentums allein gewährleisten müßten, erklärte die MPF, die sich letztes Jahr sogar für das Eingreifen der Armee in den Banlieues ausgesprochen hatte.

Staatschef Chirac setzte in seiner Neujahrsansprache wieder einmal auf "ruhigere" Töne. Doch die Gewalttaten des 1. Januar im Zug zwischen Nizza und Les Arcs seien "unannehmbar". Innenminister Nicolas Sarkozy - dem Ambitionen auf die Chirac-Nachfolge nachgesagt werden - gab sich engagierter. Der UMP-Chef versprach die Schaffung einer Bahnpolizei und die Verbesserung der Koordination der Sicherheitsdienste in den Zügen. Die neue Polizei solle aus 1.500 Polizisten bestehen und nach dem Modell der im Großraum Paris schon existierenden Eisenbahn-Polizei organisiert werden.

Die oppositionellen Sozialisten (PS), die schon im November gegen die Verlängerung des Ausnahmezustands waren, kritisierten die optimistische UMP-Darstellung der Neujahrsereignisse, die der "schlimmen Realität" nicht entspreche. PS-Fraktionschef Jean-Marc Ayrault meinte gar, die während der Silvesternacht abgebrannten Autos brächten "die Niederlage der Regierung" zum Ausdruck. Die Regierung gebe sich mit "unpassenden oder gefährlichen Maßnahmen zufrieden", kritisierte die PS-Generalsekretärin für soziale Fragen, Martine Aubry. Die Regierung befasse sich nur mit der unmittelbaren Begrenzung der Gewalt und nicht mit einer Wirtschaftspolitik, die die schwierige Situation vieler in den Banlieues-Bewohner verbessern könne.

Die Grünen im Elsaß haben hingegen ganz andere Sorgen. Sie forderten letztes Wochenende ein Verbot der Armenspeisung durch die rechtskonservative Regionalpartei "Das Elsaß zuerst" (Alsace d'abord). Die Autonomisten verteilten bei ihrer Verköstigung von Bedürftigen eine Schweinefleisch-Suppe, was Juden und Muslime, deren Religion den Schweinefleischverzehr verbiete, faktisch ausschließe, so die Grünen. Der Regionalsekretär des Zentralrats der Juden (CRIF), Pierre Lévy, sprach von einer "schändlichen Aktion". So werde eine humanitäre Aktion "zu politischen Zwecken mißbraucht", kritisierte der Präsident des elsässischen Regionalrats der Muslime, Mohammed Latahy.

"Elsaß zuerst"-Präsident Robert Spieler erklärte hingegen, Schweinefleisch gehöre zu den kulinarischen Spezialitäten des Elsaß. Die Suppe werde während der kalten Jahreszeit an jedem Sonnabend verteilt - ohne jede Diskriminierung. Außerdem sei das "Schwein ein europäisches Symbol, ob das nun jedem paßt oder nicht".

Foto: Brennendes Auto in der Silvesternacht in Straßburg: Was sollen die einfachen Franzosen denken?


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