© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/06 20. Januar 2006

Archäologe der deutschen Seele
Hans-Ulrich Treichel
Thorsten Hinz

Hans-Ulrich Treichel, Jahrgang 1952, gehört zu den seltenen Schriftstellern der mittleren Generation, die ihre Adoleszenz-Phase mit Entschiedenheit abgeschlossen haben. Die deutsche Dauerpubertät, die sich in Selbsthaß und Weltschmerz einerseits, in infantiler Heiterkeit andererseits niederschlägt, nimmt er aus der Distanz und deshalb um so schärfer wahr. Treichel ist einer der besten Archäologen der deutschen Seelenlage. Grundmotiv seiner Romane und Erzählungen ist tiefe Lebensangst. Sie spielt - meistens in heiter-ironischer Brechung - auch in den hier versammelten Reden und Aufsätzen eine Rolle. Er erklärt sie aus einer spezifischen deutschen Geschichtlichkeit, die er gerade dort aufspürt, wo sie gelöscht oder moralisierend verengt wird.

Aufgewachsen in Ostwestfalen als Sohn von Vertriebenen, nahm er die Landschaft seiner Kindheit und später die Bundesrepublik als einen geschichtsleeren Raum wahr. In seiner Dankrede zum Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis der Stadt Münster 2003 sprach er von der Sehnsucht nach einem Ort, "der auch eine Zeit hatte. Der nicht aus purer Gegenwart, aus Sparkasse, Kleinfleischhandel und Umgehungsstraße bestand." Auch der modische NS-Gedenkkult hat die Leere nicht aufgefüllt. In dieser funktionalistischen Welt werden die Aggressionen in einer subkutanen Alltagspraxis sozialer Vernichtung ausgelebt. Der Universitätsassistent, dessen Anstellung nur eine befristete ist, muß sich regelmäßig auf süßliche Fragen nach seinen Zukunftsplänen einstellen, die punktgenau in dem Moment aufhören, wo seine Stelle wider Erwarten in eine unbefristete umgewandelt wird. Aktuell nimmt die Debatte um die Kinderlosigkeit an emotionaler Schärfe zu. Treichel, selbt kinderlos, räumt ein, "seit einiger Zeit einen stillen existentiellen Schmerz und eine Art Kinderlosigkeitsscham vor Gott, der Welt und sich selbst aufsteigen" zu spüren.

Was bleibt den Deutschen anderes übrig, als aus dieser Welt des Schmerzes, der Scham und der Geschichtsleere in den bilderreichen Süden, nach Italien zu fliehen? Im Grunde ist das ein mythischer Illusionstrick, der nur für die Dauer eines Kurzaufenthalts funktioniert, wie Treichel in einer scharfsinnig-ironischen Analyse einer Szene aus Wolfgang Koeppens "Tod in Rom" erklärt. "Denn wer, der länger in Rom war, kennt nicht das Erschrecken darüber, sich selbst hier in einer Stadt der bloßen Gegenwart zu befinden. Als sei man in Osnabrück oder auch Düsseldorf." Der durchschnittliche deutsche Rom-Reisende aber wird sich "die ganze Reihe der Engel im Rücken" nicht nehmen lassen. Schließlich spendet sie ihm das tröstliche Gefühl, am Ende doch noch "dem Abgrund entronnen zu sein".

Hans-Ulrich Treichel: Der Felsen, an dem ich hänge. Essays und andere Texte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005, 186 Seiten, 12,90 Euro


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