© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/06 27. Januar 2006

Abschreckung
Atomwaffen sollen nun auch "vitale Interessen" schützen
Jean-Marie Dumont

Die Führer von Staaten, die gegen uns auf terroristische Mittel zurückgreifen, sowie alle, die in der einen oder anderen Weise den Einsatz von Massenvernichtungswaffen erwägen, müssen verstehen, daß sie sich einer festen und angemessenen Antwort unserer Seite aussetzen würden", erklärte Jacques Chirac letzten Donnerstag auf dem Atom-U-Boot-Stützpunkt Île Longue. "Diese Antwort kann konventionell sein; sie kann auch anderer Natur sein", fügte der französische Staatspräsident hinzu - und die Schlagzeile "Chirac droht mit Atombombe" war geboren.

Da in Frankreich unter den großen Parteien aber weder die Atombewaffnung noch die Kernenergie (78 Prozent des Stroms kommen aus 59 AKWs) strittig ist, kam die Empörung nur von den kleinen Linksparteien und -bewegungen. "Entsetzt" sei er, sagte der grünen Spitzenpolitiker Noël Mamère, er halte es für eine "vollkommen falsche" Vorstellung, den Kampf gegen den Terrorismus mit der Atombombe zu führen. Es sei absurd, ein ganzes Volk für den "mörderischen Wahnsinn seiner Regierenden zahlen zu lassen". Man dürfe "nicht einem einzelnen Mann die Verantwortung für die Atomwaffe überlassen", fügte Mamère in Anspielung auf die Machtfülle des Staatspräsidenten hinzu. Der Wortführer der trotzkistischen LCR, Alain Krivine, bezeichnet Chiracs Erklärung als "völlig unverantwortlich", die altkommunistische PCF warnte vor der Verbreitung von Kernwaffen.

Daß in Deutschland bis in Unionskreise hinein ähnlich argumentiert wird, zeigt, wie groß die Distanz zwischen Paris und Berlin in Atomfragen ist. Doch Chiracs Rede sollte nur einen Wandel der Nukleardoktrin ankündigen. "Gegen eine Regionalmacht lägen unsere Alternativen nicht nur zwischen Nichtstun und völliger Vernichtung", sagte der Präsident und meinte: Seit 1964 war die force de frappe als klassische Abschreckungsstrategie organisiert. Wer Frankreich mit Massenvernichtungswaffen angreifen wollte, mußte mit der totalen Vernichtung rechnen. Nun sollen "flexible" Antworten möglich sein. Dank moderner Technik könne "unsere Antwort direkt auf die Machtzentren und Handlungsfähigkeit" eines Aggressors gerichtet werden, so Chirac.

Die zweite Neuerung ist die mögliche Erweiterung des Verteidigungsbegriffs auf "vitale Interessen". Die Nuklearmacht soll künftig nicht nur Frankreich, sondern auch die "strategische Versorgung" und "verbündete Länder" schützen. "Es obliegt dem Präsidenten der Republik, das Ausmaß und die möglichen Folgen einer Bedrohung oder einer unerträglichen Erpressung gegen seine Interessen einzuschätzen", sagte Chirac. Daß nur der französische Präsident den Einsatz des viertgrößten Atomwaffenarsenals der Welt befehlen kann, war allerdings schon immer so.


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