© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/06 27. Januar 2006

"Der Markt kann weder Politik noch Staat ersetzen"
Interview: Der Nationalökonom Wilhelm Hankel kritisiert Neoliberale, die derzeitige Wirtschaftspolitik, den Euro, die EU und die Illusion privater Rentenkonzepte
Jörg Fischer

Herr Professor Hankel, Professor Meinhard Miegel hat im Interview mit dieser Zeitung (JF 3/06) die Verwirrung vieler Begriffe beklagt. Der Begriff "neoliberal" werde sogar zur Stigmatisierung verwendet. Umgekehrt werde dem "nichtssagenden" Begriff "sozial gerecht" eine Art Weihe verliehen. Teilen Sie diese Kritik?

Hankel: Nein. Was soziale Gerechtigkeit ist, steht im Grundgesetz: Die Bundesrepublik ist ein "sozialer Bundesstaat", kein neoliberaler. Die Politik hat sich an den "Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" zu orientieren. Das präzisiert das Wachstums- und Stabilitätsgesetz von 1967: stetiges Wirtschaftswachstum, hoher Beschäftigungsstand und Einkommensgerechtigkeit. Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft war zu keiner Zeit eine neoliberale. Der Grundgedanke seines "Ordnungs-Liberalismus" war: Der Staat solle die hohe Effizienz der Marktwirtschaft nutzen, um die Menschen so weitgehend wie möglich vor den sozialen Risiken der Marktwirtschaft zu schützen und sie ihnen eben nicht auszuliefern. Die heutigen Neoliberalen verwechseln den Markt mit Politik und Staat. Doch der Markt kann weder die Politik noch den Staat ersetzen - noch darf er es. Was Miegel als Stigmatisierung des Neoliberalismus beklagt, ist in Wahrheit die Aufdeckung eines Etikettenschwindels: Die Neoliberalen predigen die Alleinherrschaft des Marktes und lehnen Staat und Politik als Einmischung in die Logik der Märkte ab. Sie sind keine Neo-, sondern Lobby-Liberale!

Miegel hält die Nation für "ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts", das "nicht für die Ewigkeit bestimmt" sei. An ihre Stelle träten die EU und die Regionen. Doch ist 2004 die geplante EU-Verfassung gescheitert. Ist die Nation ein Auslaufmodell?

Hankel: Nicht die Staaten sind Auslaufmodelle, sondern internationale Systeme, die die Ziele und Aufgaben der Staaten in Frage stellen. Der Goldstandard brach 1931 zusammen, weil er die Staaten hinderte, Arbeitsplätze zu schaffen, das Weltwährungssystem von Bretton Woods mußte 1973 aufgegeben werden, weil es die Staaten zwang, über die permanenten Dollarzuflüsse ihre Preisstabilität zu gefährden, und der IWF hat seine Autorität verspielt, weil er in Dritt-Welt-Staaten die Interessen der großen Gläubigernationen und Banken vertritt, statt Verständnis für die Not der Armen zu zeigen. Der EU wird es genauso ergehen, wenn sie weiterhin die Wachstums- und Beschäftigungspolitik in ihren Kernländern blockiert. Für Wohlstand, Arbeit und Gerechtigkeit sind auf aller Welt die Staaten verantwortlich und nicht supranationale Gebilde und vaterlandslose Bürokratien. Das genau sagt auch das Wort "Nationalökonom" oder "Volkswirt". Dieser Berufsstand ist für die wirtschaftliche und soziale Gesamtsituation der Nation zuständig und nicht für Einzelinteressen. Seine Funktion kann weder ein Großmanager ersetzen noch eine undemokratische Institution. Gerade das liberalste aller Jahrhunderte, das 19., kam ohne Gebilde wie EU, OECD, WTO oder IWF aus. Ich halte eher sie für Auslaufmodelle als unsere auf Demokratie, Recht und soziale Ordnung gegründeten Nationalstaaten.

Ziel der Sozialen Marktwirtschaft war einmal "Wohlstand für alle". Heute scheint immer mehr kurzfristige "Maximalrendite für Kapitaleigner" Ziel der Wirtschaftspolitik zu sein - ansonsten wandert es in die neuen EU-Länder, nach China oder Indien aus. Dagegen kann ein Staat nichts mehr ausrichten, oder?

Hankel: Kapital orientiert sich immer an der Rendite. Daran ist nichts Verwerfliches, solange die Berechnung der Renditen stimmt, weder auf Spekulation noch unechtem Standort-Wettbewerb beruht. Die Euro-Zone ist ein Musterbeispiel für beides: Seit es den Wettbewerb auf Währungsebene nicht mehr gibt, tobt sich der Wettbewerb direkt am Arbeitsplatz bei Löhnen, Sozialkosten und Steuern aus. Weil die Investoren keine Kapitalverluste mehr aus Abwertungen befürchten müssen, können Risikoländer wie Spanien, Portugal, Griechenland oder Irland aus ihrem Rückstand und ihrer Inflation buchstäblich Kapital schlagen. Sie nehmen produktivitätsstarken Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Niederlande Produktion und Arbeitsplätze weg. China, Indien und andere asiatischen Schwellenländer halten sich nicht an die Sozialstandards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und werben mit Hungerlöhnen und Kinderarbeit Kapital aus den Industrieländern ab. Das alles muß nicht sein. Die Kosten und Gefahren der Globalisierung machen doch deutlich, daß unkontrollierte und ihrem Wildwuchs überlassene Märkte weder eine Ordnung darstellen noch eine schaffen. Diese müssen die Staaten herstellen: in der Weltwirtschaft wie in Europa. Die Canossa-Politik gegenüber dem Markt und der EU und ihren Organen ist weder gottgewollt noch alternativlos.

Die Gewerkschaften fordern eine "europäische Sozialpolitik". Ist das machbar?

Hankel: Ohne Staat ist keine soziale Politik zu machen; denn der Markt ist niemals sozial und kann es auch gar nicht sein. Die Linke in Deutschland und anderswo hat die Folgen von Globalisierung und europäischer Binnenintegration gröblich unterschätzt und die eigenen Gestaltungskräfte maßlos überschätzt. Man wollte aus Tradition international und europäisch sein, hat aber übersehen, daß mit der globalen und europäischen Entstaatlichung dem Sozialstaat die Geschäftsgrundlage entzogen wird. Es gibt weder die Sicherheit am Arbeitsplatz noch genügend Geld in den Staats- und Sozialkassen. Führende SPD- und Gewerkschaftspolitiker haben ihren Einsatz für die EU und den Euro und die damit einhergehende Entmachtung des Staates sogar für den Ausweis staatsmännischer Weisheit und ökonomischer Einsicht gehalten! Eine Sozialpolitik auf globaler oder EU-Ebene ist nicht vorstellbar. Sie ist in den EU-Verträgen auch gar nicht vorgesehen.

Für Sie ist die Gemeinschaftswährung Euro einer der Gründe für die Wirtschaftsprobleme in der EU. Warum?

Hankel: Der Euro hat alle Mitgliedstaaten jener wirtschaftspolitischen Waffen beraubt, die sie brauchen, um ihre Volkswirtschaften konjunkturgerecht zu führen und sozial zu gestalten. Es gibt jetzt weder den Wechselkurs, den Zins noch die Möglichkeit einer gesamtwirtschaftlich orientierten Haushaltsführung. Kommt es wie in Deutschland zur Krise, bleibt nur noch eines: Löhne und Sozialkosten kräftig zu senken. Nur: Damit nützt man allenfalls den im internationalen Wettbewerb stehenden Exportunternehmen, aber weder der Binnenkonjunktur noch dem sozialen Frieden. Die Nachhaltigkeit der deutschen Krise hat letztlich hier ihren Grund: Weil man die erprobten konjunkturpolitischen Anregungsmittel einem Empfänger ausgeliefert hat, der sie selber nicht nutzen kann oder darf, nämlich der EU, ist man auf das Wohlwollen - und die Ansichten - der großen Firmen angewiesen. Das nennt man dann "Angebotspolitik". Doch was nützt ein Angebot ohne Nachfrage!

Könnte nicht statt der Nationalstaaten die EU die "Globalsteuerung" übernehmen?

Hankel: Aus der EU lassen sich keine Vereinigten Staaten von Europa zimmern. Diese Vorstellung ist politisch wie ökonomisch gleichermaßen absurd. Weder läßt sich einer in historischer und kultureller Vielfalt aufgewachsenen Völkerfamilie ein Einheitsstaat überstülpen. Die europäischen Völker würden dies als eine ähnliche Vergewaltigung empfinden wie die Mega-Staats-Phantasien eines Hitler, Stalin, Napoleon oder Attila. Wenn etwas historisch veraltet ist, dann dieser Großmachtswahn. Ökonomisch wäre dieses Konzept ohnehin das Ende der EU. Mit jeder neuen (und verrückteren) Erweiterung wachsen die Spannungen in der EU, verstärkt sich der Druck auf ihre Subventionskasse und auf den Euro. Als monetärer Maßanzug für heute zwölf und morgen mehr als die doppelte Anzahl höchst ungleicher und überwiegend armer Volkswirtschaften platzt er früher oder später aus seinen Nähten. So oder so ist er eine Währung mit Verfallsdatum.

Wäre die EU nicht ein Instrument, um gegen die großen ökonomischen Gegenspieler USA und Asien bestehen zu können?

Hankel: Der EU-Binnenmarkt schützt nicht vor der Globalisierung, er verstärkt sie. Kein Markt der Welt ist so grenzenlos und dereguliert wie der europäische Binnenmarkt für Personen-, Waren- und Geldverkehr. Ihn nach außen abzuschirmen, was beim Agrarmarkt geschieht, würde die EU zum Vorkämpfer eines weltweiten Protektionismus machen, der auf ihre Mitgliedstaaten, speziell Deutschland, zurückschlägt und ihre Exportinteressen aufs schwerste schädigt. Genau das hat ein echter Liberaler wie Ludwig Erhard immer befürchtet und zu verhindern versucht.

Trotz hoher Löhne und sieben Jahren Rot-Grün ist Deutschland weiter Exportweltmeister. Nur die Binnennachfrage fehlt.

Hankel: In Deutschland geht es einer Handvoll Groß- und Exportunternehmen gut und der Binnenwirtschaft - sie stellt zwei Drittel aller Arbeits- und vier Fünftel aller Ausbildungsplätze für den Nachwuchs - miserabel. Das ist nicht Schicksal, sondern Ausweis schlechter, unprofessioneller Politik.

Die EU-Erweiterung 2004 wurde oft als übereilt kritisiert. Andererseits liegen dort wichtige Märkte für Deutschland.

Hankel: Hier wird der Unterschied zwischen Lobby-Politik und einer am Gesamtwohl der Volkswirtschaft orientierten Makro-Politik deutlich. Natürlich sind die Ostmärkte gut für die an ihnen interessierten Firmen. Doch die Volkswirtschaft muß mit dem weiteren Abzug von Arbeitsplätzen in den Osten und dem Zuzug weiterer Billig-Arbeitskräfte von dort fertig werden. Wenn die EU ihr Heil in der Erweiterung sucht, verwechselt sie Dynamik mit Dynamit!

Kurt Biedenkopf forderte wie Miegel seit den achtziger Jahren eine steuerfinanzierte Grundrente, alles weitere sollte jeder privat finanzieren. Würde dies in allen Industrieländern umgesetzt, wäre dafür ein enormer Kapitalstock nötig, der im Renten-/Pflegefall "konsumiert" werden würde. Ist das ein realistisches Konzept?

Hankel: Das Biedenkopf-Miegel-Konzept zielt auf einen schlecht kaschierten Rentenabbau. Die von beiden propagierte Eigenvorsorge entlastet zwar die Rentenkasse, aber weder die Rentner selber und schon gar nicht die Volkswirtschaft. Was eine Gesellschaft für ihre alten Menschen aufzubringen hat, errechnet sich nach der zeitlosen Formel: Zahl der Ruheständler multipliziert mit dem Lebensstandard, den wir ihnen zubilligen. Die Formel gilt für die Großfamilie auf dem Bauernhof wie die Kleinfamilie in der modernen Erwerbs- und Geldgesellschaft. Wer von ihr abweicht, indem er den alten Menschen den humanen Lebensstandard verweigert oder ihre Lebenszeit verkürzt, predigt den Rückfall in die schlimmste Barbarei. Jede Generation muß nun einmal standesgemäß für ihre Alten sorgen, daran führt kein Weg vorbei. Und es gibt auch keinen Trick bei der Geldbeschaffung für den Sozialstaat. Biedenkopf und Miegel verkennen, daß dieses Geld immer aus den Einkommen der jeweils aktiven und im Erwerbsleben stehenden Generation bestritten werden muß und daß der Staat nur die Wahl hat, es über Sozialabgaben oder Steuern aufzubringen. Der Miegelsche Ausweg des privaten Ansparens von Altersrenten, quasi ihre Vorfinanzierung aus eigenen, privaten Mitteln ist keiner. Erstens müssen auch die Einnahmen aus Zinsen, Mieten, Dividenden, Haus- oder Wertpapierverkäufen immer aus dem laufenden Einkommen aktiver und im Erwerbsleben stehender Zahler und Käufer geleistet werden. Zweitens: Was würde ein Rentenansparplan in unserer derzeitigen und künftigen Situation bewirken, wenn nicht noch mehr Krise, Arbeitslosigkeit und Nachfrageausfall! Auch Soziologen sollten die Gesetze der Volkswirtschaft nicht ganz fremd sein.

Miegel meint, daß private Vermögen "an den Chancen expandierender Volkswirtschaften" teilhaben können. Sind Inder und Chinesen dauerhaft bereit, für wenig Lohn hohe Renditen für deutsche Rentenfonds zu erwirtschaften?

Hankel: Genau hier liegt das eigentliche Risiko aller kapitalfundierten Rentenansprüche. Man kann das finanzielle Eigentum garantieren, aber nicht seinen zukünftigen Wert. Den bestimmt nämlich in der Geld- und Marktwirtschaft der Kapitalmarkt. Wie der deutsche, indische oder chinesische Kapitalmarkt Spar- und Anlagetitel in zehn oder mehr Jahren bewertet, kann weder Miegel noch ein kundiger Anlageberater voraussehen oder garantieren. Ein "Schwarzer Freitag" oder mehrere - und alles ist hin. Es gibt keine Alternative zur Finanzierung der Sozialeinkommen aus den Leistungseinkommen der Volkswirtschaft. Vermindern läßt sich diese Last nur dadurch, daß man die Rentenlaufzeit verkürzt: die Menschen länger in Arbeit läßt und später in Rente schickt als heute.

Was erwarten Sie vom neuen Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU)?

Hankel: Früher kannte man den Wirtschaftsminister, nicht den Finanzminister. Wenn Glos dahin zurück will, muß er nur seinen gesunden Menschenverstand gebrauchen. Deutschland braucht keine Wirtschaftsweisen, Untergangspropheten oder Spar-Savonarolas. Es kann seine Probleme lösen, wenn es sein Potential nutzt, statt es verkümmern oder ins Ausland abwandern zu lassen. Das heißt: das Investieren fördern, nicht das Sparen, den Konsum beleben und nicht die Steuern erhöhen, den Haushalt an der Volkswirtschaft orientieren und nicht an EU und EZB. Und begreifen, daß der Sozialstaat keine Belastung der Wirtschaft ist, sondern ein Mittel, die Nachfrage nach Gütern und Arbeit zu beleben. Michael Glos könnte ein zweiter Ludwig Erhard werden.

Wilhelm Hankel: "Der Euro hat alle Mitgliedstaaten jener wirtschaftspolitischen Waffen beraubt, die sie brauchen, um ihre Volkswirtschaften konjunkturgerecht zu führen und sozial zu gestalten" foto: Picture-alliance / dpa

 

Prof. Dr. Wilhelm Hankel, geboren 1929 in Danzig, lehrt seit 35 Jahren Währungs- und Entwicklungspolitik an der Uni Frankfurt. Er leitete unter Karl Schiller die Abteilung Geld und Kredit im Bundeswirtschaftsministerium und war danach Präsident der Hessischen Landesbank. Zusammen mit drei Kollegen klagte er 1997 vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Einführung des Euro.

 

Literatur: Hankel, Wilhelm; Nölling, Wilhelm; Schachtschneider, Karl Albrecht; Starbatty, Joachim: Die Euro-Klage - Warum die Währungsunion scheitern muß. Rororo aktuell, 1998

Wilhelm Hankel, Karl A. Schachtschneider, Joachim Starbatty: Der Ökonom als Politiker. Europa, Geld und die soziale Frage. Lucius & Lucius, 2003

 

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