© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/06 27. Januar 2006

Treten, was am Boden liegt
Billig beklemmend: Michael Hanekes Film "Caché" löst allzuviel Frustration aus
Martin Lichtmesz

Die Männer waren absolut unbewaffnet und demonstrierten ohne jede Gewalt", schrieb der Zeitzeuge Serge Thion über den 17. Oktober 1961. Die FLN hatte einen Protestmarsch gegen die zuvor verhängte Ausgangsperre für algerische Arbeiter organisiert. "Auf Befehl des Präfekten Papon begannen die Pariser Bullen, in die Masse zu feuern. Sie haben geschossen, mit scharfer Munition, ohne die geringste Provokation. (...) Hunderte Männer sind in dieser Nacht getötet worden: auf der Straße in den Wachstuben, im Hof der Präfektur. (...) Viele ihrer Leichen wurden in die Seine geworfen, während die Pariser Bevölkerung in Abstand zu dem Geschehen blieb, in einer feindseligen Gleichgültigkeit und einer totalen Abwesenheit von Solidarität".

Dieses verdrängte Kapitel der französischen Geschichte lieferte dem nunmehr in Frankreich arbeitenden österreichischen Regisseur Michael Haneke den Stoff zu seinem neuen Film "Caché" (Versteckt), der eine beklemmende Kriminalgeschichte mit einer untergründigen politischen Problematik verbindet.

Der Moderator einer Literaturfernsehsendung, Georges Laurent (Daniel Auteuil), in gutbürgerlicher Ehe lebend, Vater eines pubertierenden Sohnes, ein kultivierter, liberaler Intellektueller, der wahrscheinlich gern Haneke-Filme sieht, erhält von einem Unbekannten Videos zugeschickt, die stundenlange Aufnahmen seines Hauses von der anderen Straßenseite aus zeigen. Vermehrt werden ihnen aggressive Kinderzeichnungen beigelegt, auf denen grellrote Blutfontänen zu sehen sind.

Allmählich enthüllt sich vor der zunehmend hysterischen Ehefrau (Juliette Binoche) und dem Zuschauer eine traumatische Episode aus Laurents Kindheit, deren Hintergrund das Massaker vom 17. Oktober bildet und deren Spur schließlich zu dem Algerier Majid führt, den Laurent verdächtigt, der Absender der Bänder zu sein. Laurent muß sich nun mit einer alten Schuld auseinandersetzen und dabei gleichzeitig gegen die alptraumhafte, ungreifbare Aushöhlung seiner Familie und seines Privatlebens ankämpfen.

Schuld und deren Verdrängung, latente und offene Gewalt, Kommunikationsunfähigkeit, emotionale Kälte und selbstzerstörerische Familien sind Michael Hanekes bevorzugte Themen, von seinem Kinodebüt "Der siebte Kontinent" (1989) über "Funny Games" (1997) bis zu der Jelinek-Adaption "Die Klavierspielerin" (2001). Die dünne Schicht der Zivilisation ist in Hanekes Filmen beständig am Abblättern, die Entfremdung von Mensch zu Mensch schier unheilbar geworden, die Sinnzusammenhänge ohnehin längst zusammengestürzt. Persönlichkeitszersetzung und mediale Bilderflut scheinen eine fatale Symbiose einzugehen. Gegen den "Terrorismus der Medien" setzt er einen selbstreflexiven Stil, der den Zuschauer einem Wechselbad von Identifizierung und Desillusionierung aussetzt, gegen ihren verlogenen Anspruch auf Totalität der Wirklichkeitserfassung das erzählerische Fragment.

Der 1942 in München in eine Schauspielerfamilie hineingeborene und in der Wiener Neustadt aufgewachsene Michael Haneke ist ein würdiger Erbe des düster-existentialistischen Autorenfilms der sechziger Jahre, für den Namen wie Antonioni, Bergman oder Polanski stehen. Seine Filme sind ein vehementer "Aufstand gegen die sekundäre Welt" (Botho Strauß), sie wollen dezidiert nicht unterhalten, sie wollen schmerzhaft wachrütteln, Gewißheiten erschüttern, Seh- und Denkgewohnheiten in Frage stellen.

Das macht Hanekes mitunter überkonstruierte Filme zu einem anspruchsvollen, aber stets bereichernden, anstößigen Erlebnis. Mit "Caché" ist ihm ein fesselnder, virtuos gespielter und gefilmter Suspense-Thriller gelungen, dessen vage psychotische Stimmung an David Lynch erinnert, von dem er sich übrigens das Hauptmotiv geborgt hat. Mit letzterem verbindet ihn auch der Hang, Ungereimtheiten und Rätsel unerklärt zu lassen. Was bei dem amerikanischen Surrealisten jedoch akzeptabel, ja konstitutiv ist, wird in "Caché" letztlich zum Ärgernis. Die Frustration, die sich am Ende auch beim Haneke-geeichten Zuschauer einstellt, ist künstlerisch nicht zu rechtfertigen.

Ohne an dieser Stelle allzuviel vorwegzunehmen, scheint die Kritik berechtigt, daß der Autor der Frage nach der Täterschaft des Algeriers allzu billig ausweicht. So mancher Regieeinfall entpuppt sich dann als kalkulierte Mystifikation. Das Konzept des Fragmentarischen wird zur Ausrede, zur prätentiösen Gaunerei. Das politische Thema, das im spekulationsoffenen Subtext verbleibt, wird letztlich in einem korrekten, auf deutsch: unehrlichen, Zaum gehalten.

Skepsis mag auch hervorrufen, daß Hanekes politische Ansichten sich weitgehend mit den hierzulande üblichen linksliberalen Bewältigungsdogmen decken, die vielleicht noch auf ihren Export nach Frankreich warten. Seine obsessive Beschäftigung mit dem Thema "Schuld und Verdrängung" schreit geradezu nach einem weiteren Film, der wieder nur tritt, was schon am Boden liegt. Hier darf man gespannt sein. Trotz dieses deprimierenden Makels bleibt Michael Haneke einer der kraftvollsten zeitgenössischen Filmemacher, dessen Arbeiten wie wenig andere zu fesseln und zu provozieren vermögen.

So mancher Regieeinfall entpuppt sich als kalkulierte Mystifikation. Das Konzept des Fragmentarischen wird zur Ausrede, zur prätentiösen Gaunerei.

Georges Laurent (Daniel Auteuil), Ehefrau (Juliette Binoche): Entfremdung von Mensch zu Mensch Foto: prokino


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