© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/06 27. Januar 2006

Zwischen Ideal und Wirklichkeit
Doppelausstellung: "Migration 1500-2005" und "Die Hugenotten" im Deutschen Historischen Museum in Berlin
Ekkehard Schultz

Deutschland ist ein Zuwanderungsland. Mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 wird dieser Tatsache politisch Rechnung getragen. Damit hat die Diskussion um Zuwanderungsfragen einen vorläufigen rechtlichen Abschluß gefunden ..." Diese Sätze, die wie Empfehlungen von Integrationsbeauftragten für die Gestaltung von Schulbüchern wirken, stammen jedoch keineswegs aus solcher Quelle. Sie sind auch nicht dem letzten Tätigkeitsbericht der rot-grünen Bundesregierung entnommen. Es sind die Einführungssätze aus einem Faltblatt, mit dem das Deutsche Historische Museum (DHM) für die unter dem Titel "Zuwanderungsland Deutschland" ein Gemeinschaftsprojekt bildenden Sonderausstellungen "Migrationen 1500-2005" und "Die Hugenotten" wirbt.

Dennoch sollten diese Sätze keine allzu abschreckende Wirkung ausüben. Denn so groß oft hinsichtlich der Blickrichtung auf gesellschaftliche Veränderungen der Unterschied zwischen Theorie und erlebter Praxis ist, ist er doch im Regelfall noch recht klein gegenüber dem Spannungsfeld, welches zwischen der Idealvorstellung einer von Harmonie und gegenseitiger kultureller Befruchtung geprägten multikulturellen Zuwanderergesellschaft und der oft meilenweit davon entfernten Realität besteht. In diesem Sinne räumen die Ausstellungen tatsächlich eher mit Mythen jeglicher Art auf, als fahrlässig zusätzliche Illusionen zu nähren.

Migrationen hatten immer zwei Gesichter

Der Besucher erfährt durch den historischen Rückblick, warum die Gräben zwischen Befürwortern und Gegners eines "Zuwanderungslandes Deutschland" derartig tief waren und bleiben werden - und dies in einer Form, die weder für diese noch für jene Posi-tion eindeutig Stellung bezieht. Er erhält vielmehr ein differenziertes und vielschichtiges Bild von Zuwanderung und Zuwanderern, den Hintergründen von Migrationen, von deren Nutzen wie auch von den durch sie ausgelösten oder verschärften Konflikten innerhalb der jeweiligen Zuwanderungsgesellschaften.

Friedliche Migrationen hatten in der Geschichte immer zwei Gesichter: Auf der einen Seite stand der wirtschaftliche (und gelegentlich auch politische) Nutzen von Zuwanderern für eine bestimmte soziale Schicht bzw. Klasse. Dieser Nutzen konnte sowohl langfristig als auch nur für eine kurze Zeitdauer bemessen sein. Auf der anderen Seite stehen die durch Einwanderung bewirkten Konkurrenzen um knappe Ressourcen und die häufig den weniger privilegierten Klassen einseitig aufgelasteten Integrationskosten. In dieses Spannungsverhältnis gerieten die Zuwanderer meistens ohne eigenes Zutun. Mit zunehmender Dauer ihres Verbleibs in der Zuwandergesellschaft standen sie vor der Entscheidung, entweder ethnische Kolonien zu bilden und damit gesellschaftliche Außenseiter bzw. Fremde zu bleiben; sich in der neuen Umgebung zu assimilieren, aber damit das Risiko des vollständigen Verlustes der Herkunftskultur durch Kappung der eigenen Traditionen einzugehen, oder letztlich der Rückzug in die einstige Heimat, in der jedoch inzwischen ebenso Veränderungsprozesse stattgefunden hatten und die daher für die Zuwanderer auch zur "Fremde" geworden war.

Die Aufnahmegesellschaften wiederum versuchten diese Entscheidung der Migranten zu steuern bzw. zu beeinflussen - nur selten zu deren persönlichem Nutzen. Diese Vorgaben, in denen sich die Intentionen der jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Eliten widerspiegelten, standen häufig in einem Spannungsverhältnis zu dem, was andere gesellschaftliche Gruppen bzw. soziale Klassen von den Einwanderern erwarteten und einforderten. Damit gerieten Teile bzw. sogar ganze Zuwanderergruppen in die Rolle des Sündenbockes, der für mannigfaltige nicht gelöste gesellschaftliche Spannungen herhalten mußte. Das Resultat dieser Entwicklung reichte von versteckten und offenen Anfeindungen bis zur Ermordung Einzelner oder ganzer Gruppen der vermeintlichen Schuldigen.

Die Zuwanderung von Fremden war in der Geschichte stets mit langwierigen, komplizierten und nie reibungslos verlaufenden Abgrenzungs- wie auch Integrationsprozessen verbunden. Sofern es zur partiellen oder vollständigen Assimilation von Zuwanderungsgruppen kam, dauerte dieser Prozeß Jahrhunderte. Ausnahmen gibt es bei verhältnismäßig kleinen Kohorten von Fremden, so etwa bei den während der Türkenkriege des 16. Jahrhunderts als lebende Kriegsbeute nach Süddeutschland gelangten wenigen Hundert jungen Osmanen, die innerhalb weniger Jahre vollkommen assimiliert wurden.

Wirtschaftskraft der Zuwanderer spielt eine Rolle

Aber selbst in diesem Fall bedurfte es strikter Steuerungsmechanismen. Die Osmanen wurden in Klöstern und Schulen nach strengen christlichen Maßstäben erzogen bzw. umerzogen, ihr gesamtes Leben wurde strikt reglementiert. Zwangsassimilationen unter Ausübung von Gewalt hatten dagegen stets nur kurzzeitig einen höchst fragwürdigen "Erfolg". Sobald die unmittelbare Bedrohung von Leib und Leben nicht mehr existierte, begannen die Opfer solcher Zwangsassimilationen erneut ihre Traditionen und herkömmlichen Gebräuche zu pflegen.

Die Ausstellungen zeigen an mehreren Stellen schonungslos, daß die Aufnahme von politisch und religiös Verfolgten aus rein humanistischen Motiven weitgehend ein Mythos ist. Schon bei der Aufnahme der Salzburger Protestanten in Preußen oder der Hugenotten in zahlreichen Ländern des deutschsprachigen Raums im 16. bis 18. Jahrhundert spielte deren gute Ausbildung und ihre Wirtschaftskraft die primär entscheidende Rolle.

Aber selbst die Flucht vieler Mitteldeutscher nach Westdeutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war für die Bundesrepublik keineswegs nur eine nationale Verpflichtung, sondern erbrachte durch den Zuzug von hoch ausgebildeten Fachkräften und Akademikern auch erheblichen wirtschaftlichen Profit. Im Zeitalter der Massenarbeitslosigkeit und des Arbeitskräfteüberschusses traten - trotz aller Bekundung der Solidarität mit den "anderen Deutschen" - bereits seit Ende der siebziger Jahre Konflikte auf, die sich seit der Wiedervereinigung nicht nur in anderer Form fortsetzen, sondern zugleich auffällige Ähnlichkeiten mit den Konflikten zwischen Migranten aus weit entfernten Herkunftskulturen und der Gesellschaft des Aufnahmelandes aufweisen.

Welches Fazit läßt sich mit Blick auf die heutigen massiven Probleme in den Bereichen Zuwanderung, Integration und den viel beschriebenen Parallelgesellschaften (die ja letztlich wiederum nichts anderes als eine konkrete Ausdrucksform früherer ethnischer Koloniebildungen sind) aus den Ausstellungen ziehen? Die Geschichte der Zuwanderung zeigt, daß Migration zwangsläufig Konflikte erzeugt, die nur gemildert werden können, indem die Integration im Zusammenwirken mit allen gesellschaftlichen Gruppen des Zuwanderungslandes klar geregelt wird.

Die Ausstellungen sind noch bis zum 12. Februar im Deutschen Historischen Museum, Ausstellungshalle von I.M. Pei, Hinter dem Gießhaus 3, 10117 Berlin, täglich von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Tel. 030 / 20 30 40, Internet: www.dhm.de. Die Kataloge kosten 22 Euro bzw. 25 Euro.

Ankunft der Schwabenkinder in Friedrichshafen (um 1900): Zwangsläufige Konflikte Foto: DEUTSCHES HISTORISCHES MUSEUM


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