© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/06 27. Januar 2006

Von der Ritterlichkeit demokratischer Staaten
Rolf-Dieter Müllers MGFA-"Tornisterausgabe" des Zweiten Weltkrieges erzählt Bekanntes gewissenhaft / Widersprüchliches in der Bewertung
Andreas Brauer

Fast dreißig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes geht die offiziöse bundesdeutsche Geschichte des Zweiten Weltkrieges unter der Federführung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MFGA) ihrem Abschluß entgegen. Eine kurzweilige Lektüre ist das mit reichlich über 10.000 Seiten freilich nicht. Da zudem die Anschaffung ein stattliches Sümmchen verschlingt und obendrein noch einen Regalmeter Platz benötigt, kann die jetzt von Rolf-Dieter Müller auf den Markt geworfene einbändige "Volksausgabe" über den "letzten deutschen Krieg" auf regen Zuspruch rechnen.

Müller, der zum Nachkriegsjahrgang 1948 zählt und der seit 1979 im MGFA tätig ist, koordiniert dort seit langem eben dieses Monumentalwerk über "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" und scheint daher der ideale Autor, daraus eine - um im Metier zu bleiben - "Tornisterausgabe" zu erstellen. Soweit Müller jene Themenfelder abhandelt, die in der Forschung ohnehin kaum kontrovers sind, also etwa die deutsche Kriegswirtschaft, die Rüstungspolitik und weite Strecken der militärischen "Ereignisgeschichte", ist ihm in der Tat ein braves, ein solides Werk gelungen, ausgestattet zudem mit einer nützlichen Zeittafel, einer vielleicht etwas knappen Bibliographie und der sehr zu lobenden Beigabe von 46 Farbbildaufnahmen aus dem Rußlandkrieg.

Wo es hingegen kontrovers zugeht, zieht Müller sich hastig in die Fluchtburgen des Zeitgeistes zurück. Das ist etwa der Fall bei den Themen: Ursachen und Voraussetzungen des Zweiten Weltkrieges, Hintergründe des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, Vorgeschichte von Pearl Harbor, den alliierten Kriegszielen, dem angloamerikanischen Bombenkrieg oder dem Kapitel Flucht und Vertreibung. Man ahnt schon Schlimmes, wenn er das Kapitel über die Vorgeschichte des 1. September 1939 in Anlehnung an den unsäglichen Opportunisten Fritz Fischer mit "Der zweite Griff nach der Weltmacht" betitelt. Trotzdem übertrifft Müller noch solche Befürchtungen, wenn er behauptet, der NS-Wille zum Krieg sei in Deutschland auf "positive Resonanz" gestoßen. Blieb ihm verborgen, daß sich im September 1939 die Euphorie des "Augusterlebnisses" von 1914 nicht wiederholte? Wohl nicht, da er einige Seiten weiter von der "Friedenssehnsucht" schreibt, "die überall in Europa, auch in Deutschland spürbar gewesen" sei.

Aber in derartig peinliche Widersprüche, die sich darstellerisch auch nicht glätten lassen, muß Müller sich zwangsläufig verstricken, weil die Fakten mit seinen volkspädagogischen Vorgaben kollidieren. Was besonders auffällt, wenn er Adolf Hitler exponiert als denjenigen, der "hemmungslos zum Krieg trieb". Zuvor heißt es, Hitler sei allenfalls "bereit" gewesen, das "Risiko" eines Krieges auf sich nehmen. Zwischen vorsätzlicher Kriegstreiberei und fahrlässiger Risikobereitschaft gibt es aber wohl einen markanten Unterschied, den zu erklären uns Müller leider schuldig bleibt. Im selben Kontext liest man zudem, "niemand" habe auf deutscher Seite 1939 mit einem Krieg gerechnet. Wer, nach Eintreffen der Kriegserklärungen Englands und Frankreichs, die sehr gut bezeugte Ratlosigkeit in der Reichskanzlei am 3. September 1939 bedenkt, findet das plausibel. Aber wie paßt dazu, daß Müller in seiner Erklärungsnot sogar auf "eine Art persönlicher Torschlußpanik" Hitlers verfällt, der zur "Entfesselung des Krieges" drängte, weil er geglaubt habe, einer "irrationalen Reaktion" folgend, ihm bliebe nicht mehr viel Lebenszeit?

"Irrational" ist hier wohl nur die Deutung Müllers, dessen Stärke gewiß nicht die Geschichte der internationalen Beziehungen, die klassische Diplomatiegeschichte, eben Rankes Politik der "großen Mächte" ist. Denn rührend ist sein Glaube, die USA "verharrten im Zustand des Isolationismus". Wie klingt das zusammen mit dem eigenen Befund, Roosevelt habe Briten und Franzosen früh bestärkt und dann 1940/41 eine "konsequente Politik des 'short of war'" betrieben? In der "Konsequenz" welcher US-Politik vor 1940 lag denn das? Und wenn die USA so isolationalistisch waren, woher kamen plötzlich die "Falken" in Washington, die Japan gegenüber für "ein festes Anziehen der Embargo-Schraube sorgten" sowie auf "Anerkennung der amerikanischen Vorherrschaft" in Südostasien und China pochten, die Japan damit "an die Wand" drückten? Müller ist - anders als sein MGFA-Kollege im "Monumentalwerk" - immerhin so vorsichtig, "eine neue Studie" (von Robert B. Stinnett, JF 41/03) nicht zurückzuweisen, die Indizien häuft, um zu belegen, daß Roosevelt den Überfall "absichtlich zugelassen" habe - provoziert haben er und seine "Falken" ihn ja ohnehin.

Ein ums andere Mal muß Müller denn auch ächzend einräumen, daß Washington, London und Moskau keine Gutmenschen-Allianz schlossen. Beiläufig erwähnt er US-Pläne zur chemischen Kriegführung: dreißig deutsche Städte sollten innerhalb von zwei Wochen "im Gas ertränkt" werden, mit "5,6 Millionen direkten Toten" wurde gerechnet, 11,9 Millionen "indirekt" Getötete oder Verletzte bezog man kaltblütig in die Kalkulation ein. Die westlichen Demokratien seien eben in der "Entfesselung des industriellen Krieges" wie bei der "Selbstmobilisierung von Wissenschaft und Technik" erfolgreicher als die "totalitären Diktaturen" gewesen. Großbritannien habe "im Grad der Mobilisierung das Deutsche Reich bereits 1940/41 erheblich" übertroffen.

Trotzdem glaubt Müller nur im NS-Staat die "uniformierte Gesellschaft" zu entdecken, von der es aber an anderer Stelle heißt, gerade während des Krieges sei es mit der "Konformität" nicht weit her gewesen. Es habe sich gar eine "autonome Öffentlichkeit" gebildet, eine "'schlafende' Zivilgesellschaft", unerreichbar für die NS-Propaganda. Die sich aufdrängende Frage, warum die "innere Anpassung" im westlich-demokratischen Kollektiv besser gelang als in der deutschen Volksgemeinschaft, scheint Müller nicht zu beunruhigen. Rätselhaft überdies das Fazit, "ritterliche Kriegführung" habe in den "demokratischen Staaten größeren Rückhalt" gehabt. Auch wenn man die zivilen Opfer des angelsächsischen Bombenkrieges mit 465.000 so extrem niedrig ansetzt wie Müller - der sich auch bezüglich Dresden nicht entscheidet zwischen "bis zu 35.000 Menschenleben" und "mindestens 25.000 geschätzt" (JF 4/06) -, auch dann ist hier arg wenig "Ritterlichkeit" zu entdecken. Nicht einmal aus Müllers Sichtweise, der gerade beim Thema Bombenkrieg seine einzige Abweichung von der herrschenden Meinung riskiert: Rotterdam und Coventry dürfen wohl "nicht ohne weiteres mit dem britischen Konzept des Terror Bombing gleichgesetzt" werden. Eingerahmt von den üblichen Devotionsformeln (keine "einseitige Betonung der deutschen Opferrolle"), folgt dann sogar das mutige Urteil, daß die angelsächsischen Terrorangriffe "in die Dimension des Verbrechens" reichten.

Offenbar in dem Gefühl, sich damit weit genug vorgewagt zu haben, werden andere "umstrittene" Fragen lieber ausgeklammert. Über Flucht und Vertreibung erfährt man bei ihm nicht mehr als die Klage, "die deutsche Historiographie", zu der Müller schließlich selbst seit dreißig Jahren zählt, habe dieses Kapitel "weitgehend tabuisiert". Für "die alten Präventivkriegsthesen" zum Juni 1941 vertraut er indes weiter auf die Tabuisierungsmacht seiner Gilde, die dafür garantiere, das sie nur noch "im rechtsradikalen Lager und von akademischen Außenseitern" vertreten würden, wenn sie auch bedauerlicher Weise im "post-kommunistischen Rußland" ein "erstaunliches Echo" gefunden hätten.

Müller beansprucht, die erste "moderne" Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkrieges geschrieben zu haben. Wenn "modern" soviel heißt wie "zeitgeistkonform", möchte man ihm nicht widersprechen.

Rolf-Dieter Müller: Der letzte deutsche Krieg 1939-1945. Klett-Cotta, Stuttgart 2005, 415 Seiten, gebunden, Abb., 24,50 Euro

Abwehrkampf einer US-Flak-Einheit beim Angriff auf Pearl Harbor 1941: Erfolgreich in der "Entfesselung des industriellen Krieges" Foto: Picture-alliance / DBS


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