© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/06 03. Februar 2006

Pankraz,
M. Tartuffe und der Zug der Gutmenschen

Über Tote nur Gutes (de mortuis nil nisi bene). Aber über den Typ, den sie - bewußt oder unbewußt - verkörpert haben, darf man sich schon einige kritische Anmerkungen erlauben, zum Beispiel über den Typ des sogenannten "Gutmenschen", der das Gut-sein und das eingebildete Wissen über das Gutsein wie eine Monstranz vor sich herträgt, der mit jeder Geste und jeder Nebenbemerkung die anderen spüren läßt, wie tief sie moralisch unter ihm stehen und wieviel sie noch (von ihm und den Seinen) zu lernen haben.

Sieht und hört man solchen Leuten zu, dann dämmert einem bald: Man kann das Gut-sein auch übertreiben, und das führt unter Umständen - vor allem wenn die betreffenden Gutmenschen viel Macht haben - zu ganz bösen Häusern. Man denke nur an die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts! Die vielen politischen Pläne, irgendwelche vollkommen gerechten, von Ausbeu­tung und Unterdrückung definitiv und ein für allemal befreiten Zustände herbeizuführen, führten regelmäßig ins Desaster. Um der Moral willen wurden die schlimmsten Massaker veranstaltet, und am Ende saß man tiefer im Dreck als je zuvor.

Der Volksmund, den man nie verachten sollte, hat an sich eine sehr schlechte Meinung von den Gutmenschen, den "Tugendbolden". Sprichwörter, Redeweisen, Komödien, Rüpel­spiele: Der Tugendbold ist ein höchst beliebter Gegenstand dieser Genres, und er kommt darin ganz schlecht weg, rangiert fak­tisch noch vor den Mördern und Spitzbuben am untersten Ende der Beliebtheitsskala. Er wird meistens mit dem Heuchler gleichgesetzt, mit einem Typ also, der die Moral nur im Munde führt, der sie als Tarnung benutzt, um hinter ihr völlig unmoralische, egoistische Geschäfte zu betreiben.

Dieser Moralheuchler ist keineswegs ein simpler Lügner. Der Lügner ist sich seiner Lüge stets bewußt, der Heuchler hingegen weiß gar nicht mehr, daß er lügt, er ist gleichsam seinen eigenen Lügen aufgesessen, er glaubt felsenfest an die ölige Tugendsuada, die er auf die Mitmenschen losläßt, und ist - wie man sehr gut bei Tartuffe, dem großen Heuchler bei Mo­lière, studieren kann - tief belei­digt, wenn man ihm zu verstehen gibt, daß er durch und durch in der Unwahrheit steht. Auf eine Probe seiner Tugend läßt er es allerdings lieber nicht ankommen.

Freilich, bei weitem nicht alle Tugendbolde sind Heuchler, vielleicht sogar die meisten tragen die Tugend nicht nur im Mund, sondern praktizieren sie durchaus, zeigen den anderen immer wieder, wie moralhaltig und wahr­heitsliebend sie sind. Nietzsche hat diese Spezies in seiner "Genealogie der Moral" boshaft-treffend charakterisiert. Es sind natürlich keine Heuchler, sagt er, sondern Darsteller, und zwar schlechte Darsteller, die in schier unerträglicher Weise "outrieren", übertreiben, dick auftragen.

Zitat Nietzsche: "Diese Leute sind krank vor lauter Moral. Die Gerechtig­keit, die Liebe, die Weisheit, die Überlegenheit wenigstens darstellen - das ist der Ehrgeiz dieser Kranken. Und wie geschickt macht ein solcher Ehrgeiz! Man bewun­dere namentlich die Falschmünzer-Geschicklichkeit, mit der hier das Gepräge der Tugend, selbst der Goldklang der Tugend, nachgemacht wird. Sie haben die Tugend jetzt ganz und gar für sich in Pacht genommen ... 'Wir allein sind die Guten, die Gerechten', so geben sie uns zu verstehen, 'wir allein sind die Menschen guten Willens'. Sie wandeln unter uns herum als leibhafte Vorwürfe, als Warnungen an uns."

Nietzsche sah diese gleichsam professionelle Tugendbolderei nicht zuletzt in der protestantisch-pietistischen Predigerschaft verkörpert, wie sie zu seiner Zeit vorzüglich in Barmen und Elberfeld gedieh und sich als Sprachrohr der im Leben Zukurzgekommenen und Mißratenen gerierte, der "Huster und Henkelohren", um mit Gottfried Benn zu sprechen. Man gab sich damals in jenen Kreisen die größte Mühe, den Gesunden, Wohlge­ratenen, Stolzen und Starken ein schlechtes Gewissen einzureden, um den Hustern und Henkel­ohren zur Macht zu verhelfen.

Mittlerweile hat sich die Klientel der Gutmenschen sehr ausgeweitet, auch Gesunde und Starke gehören inzwischen dazu, sie dürfen nur nicht aus dem eigenen Volk, dem eigenen Kulturkreis stammen, müssen von draußen zugewandert sein. Und die größten Patenschaftsobjekte des Gutmenschentums überhaupt sind gar keine konkreten Menschen mehr, sondern rein abstrakte Größen: die Menschheit, die Natur. Das ist für die Gutmenschen sehr bequem, denn solche Abstracta können sich gegen möglichwerweise unwillkommene Paten nicht wehren, müssen die in ihrem Namen veranstalteten Tugendspiele einfach hinnehmen.

Die Kräfte der ruhigen Vernunft und der sachlichen Problemlösungen geraten dagegen fast notwendig in ein trübes Licht. Sie können ein anstehendes Projekt noch so fein planen und vorbereiten, können sämtliche Kosten und eventuellen Nebenfolgen noch so sorgfältig berücksichtigen - am Ende stehen sie als Feinde der Menschheit und der Natur da. Gegen den frommen Augenaufschlag der Gutmenschen, die nie im Namen der Sachen selbst sprechen, immer nur im Namen "höherer Werte" und angeblich benachteiligter "Mitbürger", ist kein Kraut gewachsen.

Die großen Medien stehen von vornherein auf der Seite der Gutmenschen, da diese immer öfter höchste Positionen erringen und trotzdem selten persönliche Verantwortung tragen, man sie also nicht auf den Kanälen als (Misse-)Täter entlarven und denunzieren kann. Gutmenschen brauchen - nach dem bekannten Spruch von Odo Marquard - kein Gewissen mehr zu haben, weil sie selber das Gewissen sind, jedenfalls ihrer eigenen Überzeugung nach. Deshalb der enorme Zulauf, den das Gutmenschentum zur Zeit erfährt.

Es ist eindeutig ein Dekadenz-Phänomen, erzeugt Angst vor Taten, ermuntert zu krassem Maulheldentum. Ist Tartuffe bald überall?


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