© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/06 03. Februar 2006

Grenzen der Umverteilung im Markt ohne Staat
Der Kölner Politologe Armin Schäfer beschreibt die zunehmenden Widerstände gegen die Europäisierung des Sozialstaates
Martin Lange

Der erste internationale Auftritt Angela Merkels kommt den deutschen Steuerzahler teuer zu stehen. Denn auf dem jüngsten, vorweihnachtlichen EU-Gipfel öffnete sie nach bewährtem christdemokratischen Muster wieder einmal die Bundeskasse um des europäischen "Prozesses" willen. Wie Kritiker am Rande des allgemeinen Pressejubels über "unsere Kanzlerin" vermerkten, bedeutet die neuerliche Erhöhung der von Gerhard Schröder reduzierten Überweisungen nach Brüssel nichts anderes als den Versuch, "gute Stimmung" für ein zweites holländisches Referendum über den im letzten Frühjahr in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten EU-Verfassungsentwurf zu machen.

Unter Sozialwissenschaftlern mehren sich indes die Stimmen, daß Europas Probleme so simpel - mittels deutscher Bestechungsgelder - nicht aus dem Weg zu räumen sind. So hat der Kölner Politologe Armin Schäfer im Organ der Friedrich-Ebert-Stiftung (Internationale Politik und Gesellschaft, 4/2005) das eigentliche Brüsseler Dilemma in einer Schärfe herausgearbeitet, die jede Hoffnung, der europäischen Integration mit Geldspritzen aufhelfen zu können, als puren Illusionismus entlarvt.

Schäfer erkennt das zentrale Dilemma im unaufhebbaren Gegensatz zwischen der Wirtschafts- und der Sozialverfassung der Union. Bis Ende der achtziger Jahre habe sich Brüssel darauf beschränkt, Zugangssperren zu nationalen Märkten aufzuheben. Mit Vollendung des Binnenmarktes sei aber die Beseitigung der Grenzen selbst wirtschaftspolitisches Hauptziel der EU-Kommission geworden. Im Zusammenspiel mit der Währungsunion gefährdet diese weitgehende Liberalisierung mittlerweile den Kern der nationalen Souveränität: "Der nationale Wohlfahrtsstaat gerät durch Abwanderung und Finanzierungsschwierigkeiten unter direkten und indirekten Anpassungsdruck, der Steuerstaat unterliegt zunehmendem Wettbewerb." Mit dem "eingebetteten Liberalismus" und dem "Wohlfahrtskapitalismus" der ersten Nachkriegsjahrzehnte gehe es also unwiderruflich zu Ende.

Die Ausweitung des Marktes bewirkt europaweit den Rückbau des sozialen Schutzes. Wie Schäfer anhand von Meinungsumfragen darlegt, hat der rasende "Markt ohne Staat" 2005 die erste heftige Abwehrreaktion in Holland und Frankreich ausgelöst, wo besonders die sozialpolitischen Leerformeln des EU-Verfassungsentwurfs wie ein Hohn auf die tatsächliche, von Arbeitslosigkeit und Sozialabbau geprägte Lage empfunden worden seien.

Die bisherige Integration ist schon zu weit gegangen

Die Bestimmungen des Verfassungsentwurfs hatten die Sozialpolitik nur symbolisch aufgewertet. Grotesk erschien die Deklaration der "Vollbeschäftigung" auch deswegen, da nicht nur unklar blieb, wie dieser schöner Verfassungsauftrag zu erfüllen sei, sondern auch für wirtschaftliche Laien außer Frage stand, daß die Lissabon-Strategie grandios gescheitert war. Und zwar schon fünf Jahre vor der Ziellinie des Jahres 2010. Bis dahin wollte die Europäische Union die wettbewerbsfähigste Region der Erde sein, doch bis 2005 hatte sich nur der Produktivitätsabstand zur US-Wirtschaft vergrößert - zuungunsten der EU natürlich.

Das "soziale Europa" kann also nicht durch mehr "Öffnung", sondern nur durch Ausweisung von "Schutzzonen" geschaffen werden, in denen "Prinzipien eines ungehinderten Wettbewerbs nicht vollständig" gelten. Zumal der nächste große Liberalisierungsschritt, die Vergemeinschaftung der Sozialpolitik, an Grenzen der Solidarität stößt. "Umverteilungszumutungen" können in absehbarer Zeit nämlich über den Nationalstaat nicht hinausgehen: "Je stärker der Wohlfahrtsstaat unter Druck gerät, desto entschiedener lehnen die Betroffenen die Europäisierung des Sozialstaates ab."

Daraus gebe es nur zwei Auswege: zum einen die Staatswerdung und vollständige Demokratisierung der EU, der Brüsseler Superstaat. Doch da es keine europäische Identität gibt und sie auch nicht - wie beispielsweise Jürgen Habermas immer noch hofft - durch Partizipation am Verfahren der Verfassungsgebung entsteht, ist mit einer den Nationalstaat überschreitenden supranationalen Umverteilungsgemeinschaft nicht zu rechnen. Folglich ist die bisherige Integration eigentlich schon zu weit gegangen, da die maximale Marktintegration sozialen Widerstand provoziert. Die Erweiterung der EU ist, da der "Vereinheitlichung" Grenzen aufgezeigt werden, also nur noch auf dem zweiten Weg der sozialen und ökonomischen Differenzierung möglich.

Erzwungen wird damit zugleich der Verzicht auf ihre "Vertiefung und Demokratisierung". Dieses Dilemma hat bisher allein die britische EU-Politik - ganz im Sinn der zweiten Alternative - virtuos für ihre auf mehr europäische Desintegration setzenden politische Ziele ausgenutzt: sie befürworte den Beitritt der Türkei, "um damit die Vertiefung zu verhindern".


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