© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/06 10. Februar 2006

Den Fortschritt hat er in Verruf gebracht
Nachruf: Der Historiker Reinhart Koselleck machte die Stellung des Besiegten zum privilegierten Ausgangspunkt seiner Forschung
Karlheinz Weißmann

Am 3. Februar verstarb im Alter von 82 Jahren der Historiker Reinhart Koselleck. In praktisch jedem Nachruf wurde ihm das Attribut "groß" zugebilligt. Das geschieht über sonst deutlich gezogene Grenzen in der Zunft hinweg und deutet auf eine allgemeine Anerkennung, die sich lange vorbereitet hat. Noch in den siebziger und achtziger Jahren galt Koselleck als eine Art Geheimtipp in den Oberseminaren der historischen Fachbereiche. Der Name wurde schon mit einer gewissen Ehrfurcht genannt, selbst von der orthodoxen Linken, deren intelligentere Vertreter ihm "Theoriebewußtsein" zubilligten. Manchmal hieß es auch, er sei ein "Konservativer", aber die Zuordnung war unsicher, jedenfalls unpolitisch. Schließlich lehrte Koselleck in Bielefeld, hatte seine Habilitationsarbeit 1965 zum Preußen der Reformära veröffentlicht, die ganz sozialgeschichtlich argumentierte, und ließ Bücher bei Suhrkamp erscheinen.

Über die geistige Herkunft des 1923 in Görlitz Geborenen wußte kaum jemand etwas, dabei hätte die Lektüre der Dissertation, die 1954 unter dem Titel "Kritik und Krise" veröffentlicht wurde, schon den Verdacht erhärten können, daß hier jemand anders dachte als im akademischen Milieu der Bundesrepublik üblich. Das Thema war die geistige Vorbereitung der Französischen Revolution. Nach Koselleck begann im Jahr 1789 die "Neuzeit" im engeren Sinn, denn die Utopie ergriff zum ersten Mal die Macht und sicherte ihre Stellung mit geschichtsphilosophischen Argumenten. Später wird er von der "Sattelzeit" sprechen, in der "Erfahrungsraum" und "Erwartungshorizont" der Menschen immer weiter auseinandertraten. Die These, das habe jenen "Bürgerkrieg" ausgelöst, "unter dessen Gesetz wir heute noch leben", hat er nicht zurückgenommen.

1789 ergriff die Utopie zum ersten Mal die Macht

Solche Behauptungen und andere, wie die, daß der moderne Staat aus dem älteren, religiösen Bürgerkrieg geboren wurde und am Erstarken der "indirekten Gewalten" zugrunde gegangen sei, mußten jeden aufmerksamen Leser zu der Annahme führen, daß hier der Einfluß Carl Schmitts wirksam war, oder mehr noch, daß man es mit jenem "geistigen Überhang der Konservativen Revolution" (Dirk van Laak) zu tun bekam, der für die intellektuelle Entwicklung der Nachkriegszeit eine so große Rolle spielte. Noch in Kosellecks wissenschaftlichem Hauptwerk, der Herausgabe des Handbuchs "Geschichtliche Grundbegriffe", läßt sich Schmitts Analyse des Politischen nachweisen, sobald man die Behauptung beiseite schiebt, Begriffsgeschichte werde nur als "notwendige Hilfe" der Sozialgeschichte betrachtet. Koselleck ging es darum, daß alle "Grundbegriffe" aus ihrem konkreten Zusammenhang heraus verstanden werden müssen und agonal sind, das heißt immer auf Gegenbegriffe bezogen bleiben. Geschichtliche Grundbegriffe haben kein Wesen an sich, sondern Teil am "semantischen Kampf, um politische oder soziale Positionen zu definieren und kraft der Definitionen aufrechtzuerhalten oder durchzusetzen".

Wenn man in den offiziellen Darstellungen der Vita Kosellecks die Liste seiner akademischen Lehrer liest, darunter Alfred Weber, Karl Löwith, Hans-Georg Gadamer und Werner Conze, dann sollte das mit dem ungleich farbigeren Eindruck kontrastiert werden, den man in den Studienerinnerungen Nicolaus Sombarts (Rendezvous mit dem Weltgeist, S. Fischer, Frankfurt am Main, 2000) erhält, wo Koselleck neben Sombart selbst und Hanno Kesting als dritter Mitarbeiter des fiktiv gebliebenen "Archivs für Weltbürgerkrieg und Raumordnung" auftaucht.

Was die drei Ende der vierziger Jahre in Heidelberg beschäftigte, war die Erfahrung des Zusammenbruchs und des "Weltbürgerkriegs". Kesting und Koselleck hatten unter Kriegsteilnahme und Gefangenschaft schwer gelitten, aber ihr persönliches Schicksal stand nicht im Zentrum. Es ging vielmehr um das Bedürfnis nach einer Deutung der Epoche im Ganzen und um die Annahme, daß die Konzentration der Betrachtung auf Deutschland oder Europa dem neuen Zeitalter mit seinen großräumigen Wirkungen nicht mehr entspreche.

Wichtige Einsichten borgten sie von Schmitt, den sie in seinem Plettenberger Exil besuchten. Das bewahrte sie davor, in die übliche Wiederaufbaurhetorik zu verfallen, hat sie aber auch abgehalten, sich direkt in die politische und ideologische Auseinandersetzung zu begeben. Das gilt weniger für Kesting, der später zu Arnold Gehlen wechselte, in gewissem Sinn dessen einziger Schüler wurde und ein tragisches Ende nahm.

Koselleck war vom Wesen vorsichtiger, korrigierte seine geschichtsphilosophischen Interessen durch die Disziplin der positiven Wissenschaft und hat schließlich eine eigene "Historik" entwickelt, um, wie Thukydides nach dem Peloponnesischen Krieg, die Stellung des Besiegten zum privilegierten Ausgangspunkt geschichtlicher Erkenntnis zu machen.

Dabei war sich Koselleck der Bedrohtheit dieser Position bewußt, was die Zurückhaltung in politischen Fragen erklären, aber nicht immer entschuldigen kann. Im Historikerstreit 1986 hatte er sich auf eine unglaubwürdige Neutralität zurückgezogen und wenn er den Konflikt später so inszeniert fand, daß es "nur peinlich ist", und Nolte wie Hillgruber für diffamiert hielt, machte das die Sache kaum besser.

Er glaubte, ein deutlicheres Wort würde nicht geduldet

Aufschlußreicher als der Rückzug war aber Kosellecks Neigung zur Selbstverrätselung. Das Sphinxhafte kam vor allem in seinen Büchern und Essays zur Geltung, wenn er die Formulierungen in der Schwebe hielt, die Gedankengänge oft unabgeschlossen wirken ließ, als sollte der Leser selbst die Folgerungen ziehen und als sei es für den Verfasser unmöglich, ganz offen zu sprechen. Das hat zur intellektuellen Faszination beigetragen, aber auch die Gefahr der Mißverständnisse vergrößert und mit dazu geführt, daß Kosellecks Wirkung nicht die war, die sie aufgrund seiner Qualität hätte sein können. Aber er glaubte wohl, daß kein deutlicheres Wort geduldet würde. Jürgen Habermas hat früh Gefahr gewittert und ihm vorgeworfen, den "Fortschritt" in "Verruf" zu bringen.

Ein Verdacht, an dessen Berechtigung kaum zu zweifeln ist. In der von Koselleck mitherausgegebenen Reihe "Poetik und Hermeneutik", an der Wissenschaftler verschiedener Disziplinen mitwirkten, erschien 1980 ein Band zum Thema "Niedergang". In dem abschließenden Essay befaßte er sich mit der Frage, inwieweit die Wahrnehmung von Fortschritt und Dekadenz auf historischen oder perspektivischen Illusionen beruhe, wie sehr beide Diagnosen vom Betrachter abhängig seien und nicht selten das, was für den einen Fortschritt bedeute für den anderen als Abstieg erscheine und umgekehrt. Er verwies darauf, daß schon Rousseau und nach ihm - schärfer - Nietzsche diesen Sachverhalt entlarvt habe; Nietzsche sei letztlich so verfahren, zitierte Koselleck, "um Dem, was entartet und absterben will, das Verlangen zum Ende einzugeben". Dann setzte er hinzu: "Aber brechen wir hier ab ...".

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat an einem Göttinger Gymnasium.

 

Reinhart Koselleck in der Uni Bielefeld: Er schrieb, als sollte der Leser selbst die Folgerungen ziehen Foto: Universität Bielefeld


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