© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/06 10. Februar 2006

Selbstzweifler mit Massenmordphantasien
Eine Dissertation über den Publizisten Sebastian Haffner gibt einen Überblick über dessen publizistisches Wirken, ohne analytisch zu werden
Doris Neujahr

Dieses Buch über den Journalisten Sebastian Haffner (1907-1999) ist die Druckfassung einer Dissertation. Es soll erstens Haffners deutschlandpolitische "Grundgedanken" darstellen und zweitens die "überdauernden Maßstäbe nachweisen", die ihnen zugrunde liegen. Dafür hat der Autor eine ungeheure Fleißarbeit absolviert und neben den bekannten Haffner-Büchern wie "Germany: Jekill & Hyde", "Anmerkungen zu Hitler" und "Geschichte eines Deutschen" Tausende Artikel, Interviews und Essays in Zeitungen des In- und Auslands sowie Rundfunk- und Fernsehsendungen ausgewertet.

Ihm ist ein kompakter Überblick über Haffners journalistisches und publizistisches Wirken gelungen. Andererseits hat er aufgrund einer verengten historiographischen Perspektive Gehalt und Brisanz seiner Funde oft gar nicht begriffen, so daß ihm die "Maßstäbe" Haffners letztlich verborgen geblieben sind. Am Beispiel seiner englischen Publizistik sei das erläutert.

Haffner, als Raimund Pretzel in Berlin geboren, emigrierte 1938 nach England. Dort wurde er ein bekannter Journalist, der sich vor allem mit Fragen der deutschen Politik und Geschichte beschäftigte. Das deutsche Übel habe mit Bismarcks Einigungskriegen begonnen. Ihr Ergebnis sei ein zu groß geratenes Deutsches Reich gewesen, das sich in das europäische Mächtekonzert nicht einfügen konnte. So weit, so bekannt. Die Deutschen seien dann zum "Werwolf" Europas geworden, wofür Haffner kulturgeschichtliche und sozialpsychologische Gründe geltend macht. Den "Dämon des Deutschen Reiches" habe Hitler am klarsten verkörpert. Diese im 1940 erschienenen Buch "Jekyll & Hyde" enthaltenen "Erkenntnisse" (Beck) hätten "großes Aufsehen in der englischsprachigen Welt" erregt, und Winston Churchill höchstselbst habe das Buch seinen Ministern als Pflichtlektüre empfohlen.

Diese Tatsache wäre wohl ein paar Reflexionen wert gewesen, doch Beck ist sich gar nicht bewußt geworden, daß Haffner hier als Propagandist der klassischen englischen als "Gleichgewichtspolitik" ("balance of power") kaschierten Machtpolitik auftritt, die darin bestand, daß England sich stets gegen die stärkste Macht des Kontinents mit der zweitstärksten verbündete, um zusammen mit ihr und weiteren Partnern einen europäischen Hegemon zu verhindern, der zur Gefahr für das Britische Empire werden konnte.

Dessen Vorherrschaft ist für Haffner eine unhintergehbare Voraussetzung und der Erfolg britischer Machtpolitik ein auch moralischer Wert an sich, dem Deutschland sich unterzuordnen hatte. Dieser Gedankengang Haffners, der auf die Negierung des Rechts der Deutschen auf nationale Einheit hinausläuft, wird vom Autor zustimmend referiert. An anderer Stelle erläutert er, gleichfalls affirmierend, daß Haffner 1954 im britischen Observer die Einheit Deutschlands gefordert habe, denn die nationalstaatliche Einheit sei "ein natürliches Recht jeder Nation". Der offensichtliche Widerspruch zwischen beiden Betrachtungsweisen bleibt ohne Auflösung. Dabei ist sie vielleicht einfacher, als es scheint. Inzwischen tobte der Kalte Krieg, und die (groß-)deutsche Einheit, die Haffner 1940 als eine Gefahr für das Empire beschwor, konnte in kleindeutscher Form eine Waffe sein gegen die noch größere Gefahr, die dem Westen in Gestalt der Sowjetunion erwachsen war. Was das nun für die Stichhaltigkeit der früheren Analysen Haffners bedeutet? Daß er eher ein interessengesteuerter Tagespolitiker war als ein Geschichtsdenker mit "überdauernden Maßstäben".

Im August 1942 forderte er in einem Aufsatz für eine amerikanische Zeitschrift zwecks Lösung der "deutschen Frage" die Liquidierung von "bis zu 500.000 jungen Männern (...), sei es durch ein summarisches Kriegsgerichtsurteil (...) oder sogar ohne eine solche Zeremonie. Selbst wenn man ihre tatsächliche Tötung vermeiden und statt dessen aus der SS eine Reihe von Zwangsarbeiterdivisionen für internationalen Einsatz bilden will, dann bedeutet das nicht viel anderes als ihren lebendigen Tod." Der Verfasser knüpft an diese Massenmord-Empfehlung die Frage, ob es sich um "ein intellektuelles Kapitalverbrechen" handele, um sie dann als eine rhetorische im Raum stehen zu lassen bzw. mit antifaschistischen Floskeln abzutun. Haffners Phantasien über zu errichtende Zwangsarbeitslager entsprechen im übrigen exakt den Schilderungen aus NS-Konzentrationslagern. Nach Carl Amery war ein Häftling nur ein "wankender Leichnam, ein Bündel physischer Funktionen in den letzten Zuckungen".

Soviel macht dieses Buch immerhin deutlich: Eine gründliche Aufarbeitung von Haffners Kriegspublizistik - in der auch Robert Vansittart vorkommen müßte, der dem Autor unbekannt zu sein scheint - könnte ein weiterer Baustein zu einer objektiven, grenzübergreifenden Sitten-, Motiv- und Eskalationsgeschichte des Zweiten Weltkriegs sein.

Sebastian Haffner (1985): Eher ein interessengesteuerter Tagespolitiker als ein Geschichtsdenker Foto: Picture Alliance, AKG

Ralf Beck: Der traurige Patriot. Sebastian Haffner und die Deutsche Frage. Bebra Wissenschafts-Verlag, Berlin 2005, 368 Seiten, broschiert, 24,90 Euro


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