© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/06 17. Februar 2006

Nur noch Opfer, Richter und Schuldige
In Frankreich erreicht die Vergangenheitsbewältigung neue Dimensionen: Napoleon wird als Rassist, Antisemit und Völkermörder entlarvt
Alain de Benoist

Deutschland hatte lange das Mo nopol auf Reue und Selbstkasteiung. Seit einiger Zeit nun ist Frankreich an der Reihe, eine Inventur der dunklen Seiten seiner Geschichte vorzunehmen und seine Vergangenheit zu bewältigen. Als erstes standen das Vichy-Regime und der Zweite Weltkrieg auf der Tagesordnung, dann nahm man sich den Algerienkrieg vor. Derzeit geht es Napoleon an den Kragen.

Den Anfang machte ein Pamphlet mit dem Titel "Le crime de Napoléon" ("Napoleons Verbrechen"). Der von den Antillen stammende Verfasser Claude Ribbe behauptet dort, Napoleon habe die Sklaverei wieder eingeführt und einen "Völkermord" an "über einer Million Menschen nach rassischen Kriterien" befohlen, mitsamt Gaskammern, "Rassegesetzen" und Konzentrationslagern. Nebenbei bezeichnet er den Kaiser als "frauenfeindlichen Despoten, Homophoben, Antisemiten, Rassisten und Antirepublikaner". Hitler, so Ribbe, habe sich Bonaparte zum "Vorbild" genommen (auf dem Buchdeckel ist im übrigen nicht Napoleon, sondern Hitler abgebildet). Der "offiziellen" Geschichtsschreibung wirft er vor, "Frankreichs Vergangenheit als Sklavenstaat herunterzuspielen".

Trafalgar noch gefeiert, doch Austerlitz abgesagt

Der Aufruhr um diese Veröffentlichung steht in engem Zusammenhang mit den Lobby-Aktivitäten des 2005 gegründeten Repräsentativrats schwarzer Verbände (CRAN). Derartige Verbände haben effektiv das Recht erworben, anstelle der Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren anzustrengen, indem sie als Nebenkläger im Namen der "Opfer" auftreten. Ebenso untrennbar ist der aktuelle Streit jedoch mit einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen der schwarzen und der jüdischen Gemeinschaft verbunden. In einer Art mimetischer Rivalität werfen viele Schwarze den Juden vor, sich ein "Leidensmonopol" anzumaßen, und fechten die These von der "Einzigartigkeit" des Holocaust an, die ihrer Ansicht nach zur "Banalisierung" ihres eigenen historischen Unglücks beiträgt.

Bereits im vergangenen September führte das Kollektiv der Antillaner, Guyaner und Reúnionesen wegen "Leugnung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit" Klage gegen den renommierten Historiker Olivier Pétré-Grenouilleau, dessen Buch "Les traites négrières" ("Die Sklavenhändel") den Prix du livre d'histoire des Senats sowie den von der Académie française vergebenen Prix Chateaubriand gewonnen hatte. Der Anklage lag eine Äußerung Pétré-Grenouilleaus zugrunde, der in einem Interview doch tatsächlich nicht mit der Neuigkeit hinter dem Berg hielt, die Sklaverei sei kein rein westliches Phänomen gewesen, sondern habe sich "über dreizehn Jahrhunderte und fünf Kontinente erstreckt".

Tatsächlich war Sklaverei vor allem in arabischen und afrikanischen Staaten gang und gäbe, bevor sie im Westen praktiziert wurde. Über vier Jahrhunderte wurden elf Millionen Afrikaner nach Amerika und auf die Antillen verschleppt, dem von Arabern betriebenen Sklavenhandel innerhalb Afrikas fielen hingegen über fünfzehn Millionen zum Opfer. In Frankreich wurde die Sklaverei am 4. Februar 1794 vom Konvent abgeschafft, der auf diesem Weg die Unterstützung der schwarzen Antillaner im Kampf gegen die Engländer zu gewinnen hoffte. Sie wurde 1802 von Bonaparte als Erstem Konsul der Republik wiedereingeführt und schließlich im April 1848 endgültig verboten. Damit war sie keineswegs aus der Welt geschafft. In Mauretanien existierte sie offiziell bis 1981. Noch heute wird sie in vielen ostafrikanischen Staaten, insbesondere im Niger praktiziert.

Neu ist, daß sich zumindest in Frankreich die Historiker nicht mehr scheuen, ihren Überdruß an diesem "Gedächtniskrieg" zu bekunden. Reduziert er doch die Vergangenheit auf eine Reihe schändlicher Ereignisse, die der Staat auf Verlangen von "Tugendligen" oder politisch-moralischen Lobbyorganisationen gesetzlich aufarbeiten muß. Deren Anliegen wiederum ist es, die Geschichte zu kriminalisieren, um den Opfern eine Leibrente oder ihren Erben eine Identität zu sichern.

Den am 12. Dezember letzten Jahres veröffentlichten Aufruf einer Gruppe von 19 Historikern, die sich unter dem Motto "Freiheit für die Geschichte" gegründet hatte, haben bislang etwa sechshundert Historiker unterschiedlicher politischer Couleur unterzeichnet (JF 52/05-1/06). Darin heißt es unverblümt: "Geschichte ist nicht Gedenken. (...) Die Geschichte ist nicht die Moral. (...) Die Geschichte ist keine Sklavin der Aktualität. (...)Der Historiker akzeptiert kein Dogma, respektiert kein Verbot, kennt keine Tabus." Ferner wird klargestellt: "Die Geschichte ist kein Rechtsgegenstand. In einem freien Staat ist es weder Sache des Parlaments noch der Justiz, geschichtliche Wahrheit zu definieren." Die Unterzeichner fordern die Aufhebung der in den letzten Jahren vom Parlament erlassenen "Gedenkgesetze": des loi Gayssot von 1990, das die Leugnung des Holocaust und den Revisionismus unter Strafe stellt, des Gesetzes vom Januar 2001 zur Anerkennung des armenischen Völkermordes, des loi Taubira vom Mai 2001, das den vom Westen ab dem 15. Jahrhundert betriebenen Sklavenhandel (nicht aber den der Afrikaner und Araber) ebenfalls zu einem "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" erklärte.

Von staatlicher Seite hingegen erfolgt ein Kniefall nach dem anderen. Am 10. November 2005 wurde Claude Ribbe in den Beratungsausschuß zu Fragen der Menschenrechte berufen. Wenige Wochen später verzichtete die französische Regierung auf eine Teilnahme an den Gedenkveranstaltungen zum 200. Jahrestag von Napoleons Sieg bei Austerlitz, nachdem man noch im Juni zu den Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Niederlage von Trafalgar nach England gereist war! Zuletzt entschied Präsident Jacques Chirac per Dekret die Aufhebung eines Gesetzartikels, der "die positive Rolle der französischen Präsenz in Übersee" während der Kolonialzeit anerkannte (ein Text, dem 64 Prozent der Gesamtbevölkerung sowie 57 Prozent der Linken in Frankreich zustimmten), und erklärte den 10. Mai zum Tag des Gedenkens an die Sklaverei. Neben dem Tag der Deportation, dem Muttertag und der Gay-Pride-Parade wird er gewiß seinen Platz im öffentlichen Gedenkkalender finden.

Nach dem Maßstab heutiger Werte und Gefühle geurteilt

Am Algerienkrieg hatte sich bereits gezeigt, wie unterschiedliche Erinnerungen aufeinanderprallen und je die historische Wahrheit für sich beanspruchen: das Gedächtnis der Repatriierten, der Kriegsveteranen, der ehemaligen FLN-Kämpfer, der Harkis (algerischer Soldaten in Hilfstruppen der französischen Armee) usw. Diese Gedenkrivalität droht heute eine Büchse der Pandora zu öffnen. Warum fordert man nicht von den Italienern, daß sie sich für die römische Kolonisierung entschuldigen? Von den Ungarn, daß sie feierlich die Invasionen der Hunnen verdammen? Von den Skandinaviern, daß sie die Beutezüge der Wikinger brandmarken? Schritt für Schritt wird man schließlich in der Steinzeit anlangen.

Der Anachronismus liegt dabei nicht nur in der Mißachtung der Komplexität historischer Zusammenhänge, sondern darin, die Ereignisse der Vergangenheit nach dem Maßstab heutiger Werte und Gefühle zu beurteilen, indem man zeitgenössische Begriffe von Gerechtigkeit und Moral auf sie anwendet. So schafft man eine Gesellschaft, in der es keine Bürger mehr gibt, sondern nur noch Opfer, Richter und Schuldige.

Eine solche Welle der Hysterie kennzeichnet eine Epoche im Zeichen der gegenseitigen Überbietung des Gedenkens, des Wettbewerbs zwischen verschiedenen Opfergruppen, der selektiven Amnesie und des gesellschaftlichen Masochismus. Zudem läßt sie auf eine Ohnmacht gegenüber der Zukunft schließen: Diejenigen, die der Vergangenheit den Prozeß machen, zeigen damit, daß sie selber nicht mehr in der Lage sind, Geschichte zu machen.

Jacques-Louis David, "Napoleon überquert die Alpen" (Öl auf Lein-wand, 1800): Völkermord mitsamt Gaskammern und Rassegesetzen


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