© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/06 10. März 2006

Rütteln am Monument des Einheitskanzlers
Vor 1989 blieb das Bonner Streben nach deutscher Einheit nur noch auf Rituale beschränkt - Helmut Kohl hat diese Politik befördert
Herbert Ammon

Die classe politica genießt als classe dirigente oder - in "linkem" Vokabular - als "herrschende Klasse" gegenüber dem "Volk" (dem "Souverän" oder den "Beherrschten") einen immensen Vorteil: Sie weiß besser als das Volk, was politisch richtig ist. Richtig ist zum Beispiel heute, daß Deutschland am Hindukusch verteidigt wird oder daß - während 150.000 autochthone Deutsche jährlich das Weite suchen - Masseneinwanderung von nach wie vor mehr als 700.000 Migranten jährlich die deutsche Gesellschaft materiell und sozio-kulturell bereichert. Die kritischen Medien bestärken die Demokratie in ihren Grundüberzeugungen, und im akademischen Raum nimmt die politische Korrektheit wissenschaftliche Gestalt an. Abweichende Meinungen sind als "Stammtischgerede" nicht ernst zu nehmen, im besten Fall handelt es sich um Querulanten oder "Dissidenten", im schlimmsten Fall um Provokateure oder Sektierer.

In den siebziger und achtziger Jahren hielt die politische Klasse die deutsche Teilung für historisch zwangsläufig, für unaufhebbar und politisch notwendig. Lutz Haarmann, der für seine Studie über dissidierende Patrioten den "vollmundigen und dem damaligen Zeitgeist widersprechenden Titel" des Sammelbandes von Wolfgang Venohr aus dem Jahr 1982 als Buchtitel (angereichert mit einem Ausrufezeichen) gewählt hat, führt dies auf die "sozialdemokratische Geschichtspolitik" im Gefolge der neuen Ostpolitik zurück. Laut Haarmann habe das Autorengespann Peter Brandt und Herbert Ammon, die in den Jahren der sogenannte "Friedensbewegung" die Rhetorik vom "Schießplatz der Supermächte" (1981) mit einem realpolitischen Konzept zu unterbauen suchten, "sich quasi als Opfer der sozialdemokratischen Geschichtspolitik" verstehen müssen.

Abgesehen von dieser überspitzten Pointierung sowie von Auslassungen - man vermißt Hinweise auf den "Dissidenten" Rudi Dutschke und die Zeitschrift Langer Marsch - handelt es sich um eine lesenswerte Studie, die den Bogen schlägt von der Deutschen Frage im Kalten Krieg über die Selbstanerkennungsdebatte ab 1972 bis zur "westdeutschen Dissidenz" in den achtziger Jahren. Die Arbeit, zu welcher der einstige Honecker-Berater Wolfgang Seiffert ein Geleitwort beigesteuert hat, ist unter der Ägide des Bonner Politikwissenschaftlers Tilman Mayer entstanden, der zu den "vielen Mitstreitern und Gleichgesinnten" (Seiffert) zählte.

Zu den "Dissidenten", welche den Status quo, die auf der Teilung Deutschlands gegründeten Gleichgewichts- und Entspannungsdoktrinen in Zweifel stellten und den Komplex von Abrüstung und Frieden auf die Deutsche Frage zurückführten, gesellte sich der badische CDU-Politiker Bernhard Friedmann. Ihr Konzept ("Einheit statt Raketen", 1987) befand Kanzler Kohl, der den Machtwechsel 1982 nicht zuletzt der Raketendebatte verdankte, seinerzeit für "blühenden Unsinn". Gegen Kohl, den Kanzler der Einheit, fährt Seiffert in einem der angefügten Interviews (Seiffert, Karl Feldmeyer und Peter Brandt) schweres Geschütz auf: "Das Gerede vom 'Zipfel der Geschichte', den Kohl ergriffen haben soll, ist blühender Unsinn. Die Chance gab es immer, weshalb ich immer hingewiesen habe, wenn der Schlüssel in Moskau liege (Franz Josef Strauß), dann muß man ihn eben dort holen." Kohl sprang im November 1989 "auf den bereits fahrenden Zug auf, um die Bewegung in 'seine Bahnen' zu lenken".

Im Rückblick auf die Nachkriegszeit erhebt sich die immer gleiche Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Machthaber im Kreml bereit waren, den Schlüssel zur deutschen Einheit aus dem Panzerschrank zu holen. Hätte den Sowjets als Preis die deutsche Neutralität genügt? War die Deutsche Frage mit der Zurückweisung des mit dem "Berlin-Ultimatum" vom 27. November 1958 verknüpften sowjetischen Entwurfs eines deutschen Friedensvertrags vom 10. Januar 1959 abgetan? Das diplomatische Spiel mündete in die ergebnislose Genfer Außenministerkonferenz der vier Mächte im Sommer 1959 mit den Vertretern der beiden deutschen Staaten am Katzentisch. Waren in jener Phase, als Chruschtschow und Eisenhower Entspannung im Großmachtkonflikt signalisierten, alle Chancen für die Wiedervereinigung dahin?

Das drohende Arrangement der Weltmächte auf deutsche Kosten erkannte schon Konrad Adenauer, der 1959 als Reaktion darauf den geheim gehaltenen Globke-Plan ausarbeiten ließ. Die Konsequenzen aus dem Mauerbau zogen Egon Bahr und Willi Brandt mit ihrer auf langfristige Status-quo-Überwindung angelegten Ostpolitik. Begleitet von der alsbald einsetzenden geschichtspolitischen Umdeutung der Ostverträge resultierte daraus zusehends die Fixierung auf den Status quo.

Inwieweit das Verfassungsgerichtsurteil von 1973, welches die Einheit als verpflichtendes Leitziel bekräftigte, der Tendenz zur Sanktionierung der Zweistaatlichkeit Einhalt gebot, hängt von der historischen und politischen Perspektive ab. Mit Sympathie erwähnt Tilman Mayer als "die eigentliche westdeutsche Dissidenz in der Entspannungsära" die "juristisch instrumentierte Opponentengruppe".

Angesichts der Machtrealitäten sowie der Einbindung der Teilungsstaaten in die Blocksysteme glich, so ließe sich argumentieren, jeglicher von deutscher Seite angestrebter Versuch einer "Lösung der deutschen Frage" der Quadratur des Kreises. Also nichts als "schillernde Hirngespinste", wie von Wilfried von Bredow und Rudolf Horst Brocke noch 1987 behaupteten? Bereits nach Erscheinen des Venohr-Buches suchten Kreml-Emissäre, so der Historiker Wjatscheslaw Daschitschew, Leiter der Abteilung Außenpolitik in der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, Kontakt zu "Dissidenten".

Gewiß, noch in der Ära Gorbatschow rivalisierte diese Schule unter den "Germanisten" mit den Gegnern der deutschen Einheit um Valentin Falin. Aber spätestens ab April 1988 waren "neue Töne" aus Moskau öffentlich zu vernehmen. Sie inspirierten den "Freundeskreis Deutschland" um Feldmeyer, Detlef Kühn und den als Herausgeber firmierenden Vizepräsidenten des Bundes der Vertriebenen Klas Lackschewitz, einen hohen Marineoffizier a.D., an Gleichgesinnte den in 400 Exemplaren gedruckten Deutschland-Brief zu versenden. Der Verfasser Feldmeyer, der mehrfach Kohls Unmut zu spüren bekommen hatte, schützte sich durch Anonymität.

Alles nur Schnee von gestern, geschmolzen in der Sonne der Einheit 1989/90? "Aber heutzutage kann man sagen, daß die Bundesrepublik Deutschland ein Land mit der begrenzten Souveränität noch immer bleibt. 15 Jahre nach dem Kalten Krieg werden auf ihrem Territorium die amerikanischen Truppen und die militärische Technik, darunter auch Atomwaffen stationiert. Für ihre Präsenz müssen die deutschen Steuerzahler jährlich aus ihrer Tasche 17 Milliarden Euro zahlen. Es fragt sich, für welche Ziele ist dieses amerikanische Truppenkontingent bestimmt?" Die unerhörten Sätze sind der Unser Land-Studie 3/2005 zu entnehmen, die den Stand der deutschen Dinge beschreiben. Sie stammen von Wjatscheslaw Daschitschew.

Lutz Haarmann: Die deutsche Einheit kommt bestimmt! Zum Spannungsverhältnis von Deutscher Frage, Geschichtspolitik und westdeutscher Dissidenz in den 1980er Jahren. Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2005, gebunden, 139 Seiten, 19,80 Euro

Foto: Deutsch-deutsche Rituale an der Besucherplattform in Berlin: In den siebziger und achtziger Jahren hielt die politische Klasse die deutsche Teilung für historisch zwangsläufig, für unaufhebbar und politisch notwendig


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