© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/06 17. März 2006

Knallharter Vertreter nationaler Interessen
Polen: Der Deutschlandbesuch von Präsident Kaczynski offenbarte die Streitpunkte Rußland, Vertriebene und EU-Verfassung
Andrzej Madela

Nicht daß die Unterbrechung von Lech Kaczynskis Vortrag zum "So-lidarischen Europa" durch den marktschreierischen Auftritt polnischer und deutscher Homosexueller letzten Donnerstag an der Humboldt-Universität überhaupt nicht wahrgenommen worden wäre. Sowohl die polnische Nachrichtenagentur PAP als auch ein Teil der liberalen und dem Präsidenten sehr fern stehenden Presse verzeichneten die Berliner Peinlichkeit genau.

Die auflagenstärkste polnische Zeitung, die Warschauer Gazeta Wyborcza, bedachte ihren Berlin-Bericht gar mit Fotos aus dem Audimax. Im Textanteil widmete sie dem Zwischenfall allerdings nur zwölf von 54 Zeilen und stufte ihn vom "Eklat", wie er durchgängig in der deutschsprachigen Presse bezeichnet wurde, zu einer "Störung" herab.

Letzteres eignet sich allerdings recht genau als Beschreibung für die Voraussetzungen von Kaczynskis Deutschlandreise, denn seit der Wende 1989 waren die Beziehungen zwischen Berlin und Warschau selten so gestört wie jetzt. Treffend vermerkt hierzu die Zeitung Zycie Warszawy, der Präsident und sein Zwillingsbruder Jaroslaw Kaczynski, der einflußreiche Chef der sozial-konservativen Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), hätten in Deutschland einen geradezu fatalen Ruf als germanophobe und EU-feindliche Populisten, der 2005 in der Wahlschlacht um das Präsidentenamt zementiert worden sei. Beide Attribute hätten mit dafür gesorgt, daß der Ausgangspunkt der Gespräche in Berlin so schwierig wie nur irgend denkbar gewesen sei.

Nicht minder belastet mußten die Beziehungen aus Lech Kaczynskis Sicht erscheinen. Der 56jährige frühere Bürgermeister von Warschau glaubt, sein "harmoniesüchtiger" postkommunistischer Amtsvorgänger Aleksander Kwasniewski habe die nationalen Interessen vernachlässigt und den Bau einer Ostseegasleitung (JF 38/05) zwischen Rußland und Deutschland um die polnische Nordgrenze herum widerspruchslos hingenommen, so wie er der Annäherung zwischen Moskau und Berlin tatenlos zugesehen habe. Daß Rußland damit das EU-Mitglied Polen von Gaslieferungen abschneidet, die eben dieser EU zugedacht sind, ist aus Warschauer Sicht ein nicht hinnehmbares Risiko, veranschaulicht doch die Ukraine, wie erpreßbar ein Land wird, dem Rußland den Gashahn zudreht (JF 2/06).

Noch ärgerlicher für den Präsidenten muß es sein, daß die Initiative zum Bau der Ostseepipeline ausgerechnet von Deutschland ausging, das man unter Kanzler Helmut Kohl für den zuverlässigsten Befürworter polnischer Interessen in der EU gehalten hatte. Seitdem Bundeskanzler Gerhard Schröder das Gasgeschäft eingefädelt hat (und als Politrentner nun in den Aufsichtsrat des hierfür zuständigen Unternehmens wechseln will), fühlt sich Warschau regelrecht hintergangen.

Sorgte in jüngster Zeit die faktische Abschneidung von künftigen russischen Gasexporten für erheblichen Unmut, so tut dies der geplante Bau des Zentrums gegen Vertreibungen schon länger. Nicht genug damit, daß Kaczynski hierin die Unterscheidung von Täter und Opfer gefährlich verwässert sieht. Aus Warschauer Sicht ist auch die Frage der Rechtssicherheit polnischen Eigentums in Nord- und Westpolen (sprich: den ehemaligen deutschen Ostprovinzen) nicht restlos geklärt, solange es zumindest eine theoretische Möglichkeit gibt, daß deutsche Vertriebene ihr ehemaliges Hab und Gut vor Gericht zurückverlangen (JF-Interview 34/05). Daß eine deutsche Regierung diese Möglichkeit nicht per Gesetz ausschließt und die potentiellen Träger solcher Ansprüche wie die Preußische Treuhand frei agieren läßt, ist für den Präsidenten ein Stein des Anstoßes.

"Ein Nachbar, dem man schwerlich traut", lautete daher die Schlagzeile eines Kommentars in der regierungsnahen Zeitung Rzeczpospolita, der sich hauptsächlich mit Kaczynskis Spiegel-Interview befaßte, aus dem allerdings bezeichnenderweise nur die deutsch-polnischen Differenzen zustimmend hervorhoben wurden.

Ein weiterer Streitpunkt ist die Frage der EU-Verfassung und ihrer Folgen. Hier sind sich alle Kommentatoren einig: Der Präsident sei weitaus EU-skeptischer als Bundeskanzlerin Angela Merkel, Kaczynski halte die Integrationsfähigkeit der EU für nachhaltig erschöpft, er hege Mißtrauen gegen einen monströs überbordenden, aber kaum leistungsfähigen Brüsseler Apparat. Und: Er sei nicht bereit, den Rest nationaler Souveränität an eine undurchschaubare Instanz abzugeben, die im Zweifel keine nationalen Eigeninteressen kenne. Als "Euronaivlinge" bezeichnet Kaczynski diejenigen (und dazu zählt er stillschweigend auch Angela Merkel), die in der halbföderativen Zwitterstruktur EU einen politischen Traum verwirklicht sehen und die eigene Interessen hintanstellen.

Daß man dem Nachbarn wenig zutraut, kann ein neu ins Amt gekommener Staatspräsident seiner Gastgeberin auch damit zu verstehen geben, an welche Stelle er den Besuch setzt. Kaczynskis erster Auslandsbesuch symbolischer Art führte ihn in den Vatikan, sein erster politischer nach Washington, wo er - bei allem Größenunterschied - den zuverlässigsten polnischen Verbündeten wähnt. Anschließend ging es nach Prag zum EU-kritischen Präsidenten Václav Klaus, mit dem Kaczynski eine Fundamentalkritik an der gegenwärtigen EU-Verfassung verbindet. Erst an vierter Stelle folgte Paris, an fünfter schließlich der unmittelbare Nachbar im Westen. Schon aus der Reihenfolge ist zu schließen, daß der Präsident einen Ausgleich mit Deutschland will - allerdings nicht um jeden Preis, und das unterscheidet ihn von seinem Vorgänger.

Diese Reihenfolge wurde in Berlin und Paris mit Befremden wahrgenommen, die Atmosphäre war eher unterkühlt. Mit Reserviertheit nahm man zur Kenntnis, daß Polens außenpolitische Interessen in bezug auf Weißrußland und die Ukraine mit denen Rußlands kollidieren. Allerdings scheine Kaczynski nicht erfolglos geblieben zu sein, und immerhin habe er Merkel die Zusage abgetrotzt, nicht das vom Bund der Vertriebenen (BdV) geplante Zentrum gegen Vertreibungen zu unterstützen, schrieb das Magazin Fakty.

Auch wolle sich die Kanzlerin für den Bau einer Abzweigung der Ostseepipeline nach Polen einsetzen. Bei aller Unerfahrenheit des weder welt- noch sprachgewandten Präsidenten zahlt sich seine Kompromißlosigkeit im Formulieren nationaler Interessen anscheinend aus - zumindest in Berlin.

Foto: Merkel mit Kaczynski im Kanzleramt: Kritik an "Euronaivlingen"


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