© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/06 17. März 2006

Böse Menschen haben keine Lieder
Als die Bilder singen lernten: Eine Berliner Ausstellung offenbart, wie die Fotografie der Annie Leibovitz klingt
Silke Lührmann

Die Geschichte der amerikanischen Musik, wie Annie Leibovitz sie in 240 Bildern erzählt: Einzel- und Gruppenporträts mit und ohne Instrumente, Elvis' Plattenspieler als Stilleben, Straßenszenen aus Memphis und New Orleans, ist eine "rags to riches"-story ohne Happyend: Denn die Tellerwäscher bleiben Tellerwäscher, und die Millionäre behängen sich mit glitzerndem Tand, der, das weiß jedes Kind aus dem Märchenbuch, nicht glücklich macht.

Sie beginnt in den Kaschemmen des Mississippi-Delta, wo sich schwarze Feldarbeiter nach Feierabend das ganze - materielle wie existentielle - Elend der conditio humana von der unerlösten Seele spielten, führt mit einigen Abstechern zu den Wiegen des Country& Western den legendären Highway 61 entlang, vorbei an einer stolzen Ahnengalerie, und endet in den Ghettos heutiger Großstädte mit den Meritokraten der Rap- und Hiphop-Szene und ihren Statussymbolen vom Pelzmantel zur Luxuskarosse.

Die Gesichter der amerikanischen Musik, wie Annie Leibovitz sie teils in den siebziger Jahren als Fotografin der Zeitschrift Rolling Stone, größtenteils aber zwischen 2000 und 2003 eigens für dieses Ausstellungsprojekt eingefangen hat, geben so viele Rätsel auf, wie sie Aufklärung über das Wesen der Musik verschaffen.

Das Talent steht niemandem ins Gesicht geschrieben

Ist sie die Freude, die die ekstatisch verzückten Körper der Damen vom Mount Moriah Missionary Baptist Church Choir, die aufgerissenen Münder und himmelwärts gewandten Augen der Fisk Jubilee Singers verheißen, oder das tiefe Leid, das aus John Lee Hookers Zügen spricht?

Frönen die Dixie Chicks, die Leibovitz mit schwingendem Geigenbogen, fliegenden Fingern und klingenden Saiten verewigt, ihrer Berufung wirklich mit mehr Hingabe als die Hand aufs Herz in gelassener Ruhepose auf den Sitz ihrer Seele - tief im Bauch - verweisende Aretha Franklin?

Ganz unzweideutig erschließen Originalschauplätze ihre Bedeutung als Kult- und Weihestätten des hier verkündeten Kanons: Graceland oder die Veranda der Familie Cash, wo drei Generationen zusammenfinden, das Vermächtnis versinnbildlicht.

Leibovitz wollte "fotografieren, wie Gesang aussieht", lernen, "wie Musik gemacht wird", und dafür, so schreibt sie im Begleittext, erscheine ihr fast jeder Ort interessanter als die Konzertbühne. Daß man in dieser prachtvollen Schau "den Song sehen" kann, mag ihr zugestehen, wer Augen hätte zu hören. Wir weniger Gesegneten wissen nun zumindest - auch dies unbestritten eine Bereicherung -, wie ihre Fotografie klingt: rauh und erdig wie Odetta, so urban und geschliffen wie Norah Jones.

Das emphatisch Amerikanische an dieser Musik wie diesen Bildern liegt in ihrem egalitaristischen Pathos, als hätte jeder das Zeug zum Helden der Geschichte, die hier offenbart werden soll. Alles nur eine Frage des Willens, nicht so sehr des guten als des unbedingten: Daß böse Menschen keine Lieder haben, versteht sich freilich von alleine.

Tatsächlich steht Talent niemandem ins Gesicht geschrieben, weder dem bärtigen Jedermann Steve Earle noch einem bläulich erleuchteten Jon Bon Jovi auf der Sonnenbank oder den White Stripes, die sich stets so aufwendig in Szene setzen und deren Musik einem doch so unmittelbar am Gehirn vorbei in den Leib fährt.

Statt dessen stellen manche die Accessoires ihres Erfolges zur Schau, andere pflegen den Mythos der eigenen Exzentrizität oder aber jenen vom Megastar als Freund des einfachen Lebens. Beach Boy Brian Wilson posiert leicht verlegen, so scheint es, am Pool in Beverly Hills, Lou Reed ikonisch am Hudson. Produzent Rick Rubin, dem Johnny Cash sein großes Comeback in den 1990ern verdankte, meditiert zwischen Surfbrettern mit Antiquitätswert, diversen ausgestopften Tieren und anderen wunderlichen Requisiten. Dolly Parton, die sich selten ohne ihren Panzer aus Plastik der Öffentlichkeit zeigt, liegt ausgestreckt im Gras wie die Unschuld vom Lande - auch dies eine Pose, gewiß, und womöglich die künstlichere.

Wieder andere, die heimlichen, eigentlichen Helden der amerikanischen Musik nämlich, haben gar nichts vorzuweisen für ein ganzes Leben in ihren Diensten: ein zahnloses Grinsen, wenn's hochkommt, ein verschlissenes Sofa, zerkratzte Wände, eine Handvoll olle Möbel, einen Schwarzweißfernseher.

Vor allem solchen Vergessenen hat Leibovitz ein liebe- und würdevolles Denkmal gesetzt. Allerdings muß man sich die Mühe machen, nahe an ihre Bilder heranzutreten, um Namen zu entziffern, die selbst dem populärmusikalisch gut bewanderten Begleiter zumeist nichts sagen.

Da lohnt sich allemal der Kauf des Katalogs: Dessen Anhang widmet dem Schicksal eines R. L. Burnside ebensoviel Raum wie etwa der sattsam bekannten Biographie des Robert Zimmerman aus Minnesota, der einst - seinerseits nur einer unter vielen - aus dem Schatz einer Tradition schöpfte, die längst ohne ihn nicht mehr denkbar wäre.

Die Foto-Ausstellung ist noch bis zum 2. April im C/O Berlin, Linienstr. 144, von Mi.-So. 11 bis 19 Uhr zu sehen. Tel: 030 / 2 80 91-925. Der Katalog mit 240 Abbildungen und Texten von Patti Smith, Steve Earle, Rosanne Cash, Mos Def, Beck, Ryan Adams und Annie Leibovitz kostet 38,90 Euro.

Foto: Country- und Folksängerin Emmylou Harris, Franklin, Tennessee 2001, fotografiert von Annie Leibovitz: Als hätte jeder das Zeug zum Helden

Foto: Willie Nelson, Luck Ranch, Texas 2001

Foto: The White Stripes, New York 2003


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