© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/06 24. März 2006

"Ein Unfall namens 'Westen'"
Der Historiker Tony Judt über den gesellschaftlichen Abstieg der USA und die Zukunft Europas jenseits von Brüssel
Moritz Schwarz

Herr Professor Judt, als "einen der besten Kenner Europas unter den in Amerika lehrenden Zeithistorikern" hat Sie jüngst die "Süddeutsche Zeitung" bezeichnet. Das europäisch-amerikanische bzw. das deutsch-amerikanische Zerwürfnis gilt seit Ende des Konflikts um den Irak-Krieg, bzw. seit dem Ende der Kanzlerschaft Gerhard Schröders und der neuen CDU-geführten Bundesregierung unter Angela Merkel als überwunden. Sie sprechen dagegen davon, daß Europa und die USA sich tatsächlich immer weiter auseinanderentwickeln.

Judt: Die meisten Leute haben die USA und Europa in den letzten fünfzig Jahren für eine natürliche Einheit gehalten. Tatsächlich aber sind beide nur durch den "Unfall" des Zweiten Weltkrieges zu einer "Einheit" namens "Westen" geworden, die von Pearl Harbor bis zum Mauerfall gehalten hat.

Und nun setzt die Kontinentaldrift wieder ein?

Judt: Viele glauben, es läge nur an der Administration von George Bush. Nein, diese Drift gab es schon unter dem in Europa ja doch geschätzten Bill Clinton. Bush hat die Entwicklung lediglich beschleunigt.

Wenn "der Westen" also keine natürliche Größe, sondern nur ein instabiles Katalyseprodukt ist, wie sehen dann die Edukte, also die "Ausgangsstoffe" aus, in die der Westen nun nach Ihrer Ansicht wieder zerfällt?

Judt: Die USA sind viel weniger eine Gesellschaft, die von common sense, also gemeinsamen Strukturen, gemeinsam Zwecken, gemeinsamen sozialen Werte getragen ist, als das die europäischen sind. Sie ist eher eine Ökonomie, die von einem politischen und rechtlichen System zusammengehalten wird.

"USA: Parallelgesellschaften, Zäune, Kameras, Wachschutz"

Die Europäer haben Gesellschaften, die USA sind nur ein Zweckverband?

Judt: Die Amerikaner sind auf ihre lokale Gemeinschaft hin orientiert, small communities, und sie sind mißtrauisch gegenüber dem Staat und jeder Zentralmacht. Dieser Partikularismus geht einher mit einer kulturellen Präferenz, die die Amerikaner "Individualismus" nennen. Die USA sind also eine Kombination aus einem schwachen Staat und einer ultraindividualistischen Gesellschaftskultur, in Form starker kleiner Einheiten. In Europa spielten Gesellschaft und Staat dagegen eine viel größere Rolle. Dort sind diese seit dem 17. Jahrhundert stetig gewachsen, und durch das nationalstaatliche Organisieren von Bildung, Kultur, sozialen Diensten, öffentlichen Einrichtungen, öffentlichem Nahverkehr etc. ist eine überlokale, gemeinsame Gesellschaft gewachsen.

Oft hat man den gegenteiligen Eindruck, die Deutschen zum Beispiel erscheinen vielmehr als eine "Steuerzahlergemeinschaft" in einem "Gemeindegroßverband namens Bundesrepublik".

Judt: In Deutschland existierte eine Mischform von Gesellschaft und Gemeinschaft, so was haben wir in den USA nicht. Die einzige einigende Größe hier ist mittlerweile die Religion. Viele Menschen leben in um Kirchen gruppierten Siedlungen, und ihr gesellschaftliches Leben wird mit Bezug auf das Gemeindeleben organisiert. Oberhalb dieser Ebene existiert im Grunde nur ein gemeinsames Rechts- und Warenaustauschsystem. Es sind Waren, nicht zwischenmenschliche Werte, die die "gesellschaftliche" Wechselwirkung darstellen.

Von Europa aus betrachtet erscheinen die USA allerdings sehr kompakt, vital, eine Nation mit funktionierenden Mythen und einem starken politischen Willen. Täuscht dieser Eindruck?

Judt: Nein, diese Beschreibung trifft ebenfalls zu, sie fußt aber auf einer Außenwahrnehmung. Das Seltsame ist in der Tat, daß die USA eine enorme Macht in der Welt ausüben, ihre Bewohner jedoch in einer extrem fragmentierten Gesellschaft leben. Natürlich gibt es in den USA auch einen öffentlichen Raum. Aber trotz Massenmobilität und Massenkommunikation leben die Amerikaner heute zurückgezogener von der Welt als früher. Ich spreche von der Zunahme von Subgesellschaften oder besser gesagt, parallelen Gesellschaften mit umzäunten Blocks, Wachschutz, Videoüberwachung und folglich einem separaten sozialen Bezugssystem. Was haben diese Leute noch mit den Vereinigten Staaten zu tun? Alles was sie noch mit ihrer amerikanischen Außenwelt verbindet, ist das Wirtschafts- und das Rechtssystem.

Wenn die USA also eigentlich gar kein Nationalstaat sind, was sind sie dann?

Judt: Man muß verstehen, daß gerade weil die USA gesellschaftlich nicht das sind, was sie zu sein scheinen, sie sich um so intensiver bemühen, letzteres vorzutäuschen. Das Britische Empire oder das Deutsche Reich zum Beispiel waren für die Briten bzw. die Deutschen sehr viel stärker als gemeinsame nationale Macht "spürbar", als das bei den USA der Fall ist. Dort existiert im Inneren keine unmittelbare "Präsenz" ihrer starken imperial-hegemonialen Weltstellung. Die USA "fühlen" sich für ihre Bürger sozusagen völlig "provinziell" an. Deshalb ersetzt man dort diese mangelnde Präsenz durch Symbole, die beschwören sollen, was von sich aus nicht vorhanden ist. Überall finden Sie deshalb in den USA die Nationalflagge. So etwas erleben Sie in keinem anderen Land der Welt, auch nicht in den noch wesentlich nationaler gesonnenen Ländern Ostmittel- und Osteuropas, wie etwa in Rußland. Die USA sind abstrakt, die Flagge aber macht sie scheinbar "erfahrbar". Die gleiche symbolische Bedeutung hat übrigens das US-Militär, auch dieses symbolisiert und vermittelt den sonst nicht fühlbaren nationalen Zusammenhalt.

Die USA erleben also einen gesellschaftlichen Transformationsprozeß. Macht sie das zu einem Land im Verfall oder zu einem Land auf dem Weg in die Zukunft?

Judt: Einige Aspekte der amerikanischen Situation sind in der Tat Merkmale der Zukunft moderner Gesellschaften: etwa die Fragmentierung, der Verlust der gemeinschaftlichen Sinngebung und der zentralen Autorität in Staat und Gesellschaft. Das sind Attribute einer möglichen Zukunft. Die Europäer könnten aber beweisen, daß auch ein alternatives Modell zukunftsfähig ist.

"Die EU ist wie ein Hai, wenn er nicht in Bewegung ist, erstickt er"

Das Sie favorisieren?

Judt: Die Europäer könnten der Welt als Modell für eine Gesellschaft dienen, die noch dazu in der Lage ist, innerhalb eines gesellschaftlichen Orientierungsrahmens bis zu einem gewissen Grade Gemeinschaft zu bleiben. Sie haben recht, ich persönlich betrachte die USA eher als ein Land im Abstieg. Das bedeutet aber nicht, daß ich vorhersage, die USA werden verarmen und politisch unbedeutend werden, sondern daß sie ein Land sind, dessen moralische und physische Verfaßtheit - das, was ein Land zum Staat und zur Nation im Sinne des 18. Jahrhunderts macht - im Schwinden begriffen ist. Dabei bleiben einige der Tugenden dieses Landes aber durchaus intakt. Es ist nach wie vor ein energetic country, ein dynamisches Land, ein Land, in dem die Menschen spüren, daß hier eine Zukunft möglich ist - gleichgültig, wie sie diese Zukunft empfinden. Es ist ein Land, in dem Spitzenforschung und Spitzenbildung funktionieren - auch wenn die Breitenbildung eine Katastrophe ist. Vertraute amerikanische Parameter allerdings wie Wachstum, Innovation, innere und äußere Sicherheit, diese Dinge, die von 1950 bis 1990 galten, sind dabei zu verschwinden.

Sie haben als Wesensmerkmal der USA ihre staatliche, nationale und gesellschaftliche Abstraktheit beschrieben. Die EU ist ebenfalls durch Abstraktheit gekennzeichnet. Allerdings funktionieren die Vereinigten Staaten bei weitem effektiver als die EU.

Judt: Natürlich, denn die USA wurden als die USA konstruiert, als ein politisches Rahmenwerk gebaut für dieses Land! Die EU dagegen ist ein unter dem Eindruck der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges nach dem Wunschdenken einiger europäischer Idealisten ausgedachtes Luftschloß. Man könnte die EU - eben wie den "Westen" - aber auch als Produkt einer chain of accidents, eine Kette von Zufällen, betrachten. Und dann ist da noch die praktische Ebene: Die EU ist ein Interessenzusammenschluß von Staaten - die aber damit eigentlich vor allem ihr Eigeninteresse verfolgen und im Grund nicht daran denken, eines Tages zugunsten dieser Interessengemeinschaft ihre politische Eigenexistenz aufzugeben.

Im Gegensatz zu den USA lebt die EU also mit einer Selbstlüge?

Judt: Was sich die Europäer aber nicht eingestehen wollen - daher auch die Frustrationen über die Friktionen, wenn Anspruch und Wirklichkeit mal wieder kollidieren, wie etwa beim EU-Verfassungsreferendum.

Dann sollten wir den idealistischen Traum aufgeben und dadurch Europa voranbringen?

Judt: Die EU ist wie ein Hai, wenn der nicht ständig in Bewegung ist, erstickt er. Die EU ist - außer Israel - die einzige politische Entität, die sich weigert ihre Grenzen zu definieren. Die EU definiert sich evolutionär: "Die EU ist das, was daraus wird." Das ist natürlich ein sehr fragwürdiges Konzept, das die Bürger naturgemäß verunsichert. Man muß allerdings differenzieren: Praktisch ist das Konzept durchaus erfolgreich, aber eben nicht "emotional" - die Herzen der Europäer schlagen nicht für die EU. Dennoch wird sie im 21. Jahrhundert eine enorm wichtige Rolle spielen. Denn die USA werden nicht in der Lage sein, der Welt ein Beispiel für eine funktionierende freie Gesellschaft zu geben, die ökonomische Effektivität, soziale Kohäsion und politische Gerechtigkeit miteinander verbindet. Europa ist das beste Zukunftsmodell der Welt. Die EU ist das Beispiel eines Kompromisses zwischen Staat und Gesellschaft, Individualität und Kollektiv, Nation und Internationalismus. Wenn man sich nur endlich von den unrealistischen Nachkriegsvisionen verabschieden und eine neue Vision für das 21. Jahrhundert finden und den EU-Bürgern nahebringen würde!

Nämlich?

Judt: Man sollte endlich die naive Idee von den "Vereinigten Staaten von Europa" beerdigen. Die EU kann nur erfolgreich sein als eine transnationale Verbindung, ohne die nationale Identität der Mitglieder zu verleugnen. Die EU darf nicht länger idealistischen Vorstellungen folgen, sondern muß sich dazu bekennen, realistischen Zwecken zu dienen. Nicht ein Traum, eine konkrete Aufgabe in der Welt ist ihre Daseinsberechtigung! Daß die EU so funktioniert, hat sie bereits bewiesen! Ohne sich dessen richtig bewußt zu sein, wurde sie zum Beispiel in den siebziger und achtziger Jahren zu einem Vorbild für die osteuropäischen Staaten. Die betrachteten sie als die Alternative zum Kommunismus. Nicht der Weg in den Kapitalismus, sondern nach Europa hat diese Staaten vom Ostblock weggelockt. Das Modell Europa hat einen nicht unerheblichen Anteil an der Überwindung des Kommunismus!

Der Zweck der EU kann aber doch nicht sein, für die Welt dazusein. Überhaupt kann ihr Selbstverständnis doch kein "Zweck" sein, sondern nur in einer Identität wurzeln.

Judt: Das stimmt, ich sprach bereits an, daß die EU trotz aller anfänglichen Abendland-Rhetorik nie für einen geographischen oder kulturellen Raum, sondern für ein politisches und gesellschaftliches Modell stand. Das ist eine Schwäche und eine Stärke zugleich.

Sie sprechen vom "Vorbild Europa", tatsächlich aber ist es ein Kontinent in der Krise.

Judt: Diese Probleme sind nicht unlösbar. Es mangelt zumeist nur am politischen Willen, sie zu bewältigen. Wir Europäer sind bequem und bevorzugen die Harmonie. Das steht natürlich bei der Lösung grundlegender Probleme im Wege. Wenn Europa nicht "die Zukunft" sein sollte, dann nicht wegen eines mangelnden Potentials, sondern wegen der Unzulänglichkeit seiner politischen Klasse.

"Rechtsparteien könnten immer mehr Bürger für sich gewinnen"

Das stellt die Frage nach der Opposition: Die Linke versteht Europa lediglich als Vorstufe des Internationalismus. Der Mitte haben Sie eben Unvermögen attestiert. Bleibt noch die europäische Rechte. Die lehnen Sie aber aus politischen und moralischen Gründen ab. Wer soll es denn nun richten?

Judt: Das ist wirklich ein Problem. Wenn es dem Establishment nicht gelingt, die Europa-Frustration aus der Sackgasse zu führen, werden die europäischen Rechtsparteien tatsächlich immer mehr frustrierte Bürger für sich gewinnen. Diese Gruppen tragen nämlich in der Tat ihre Konzepte oft mit dem Engagement vor, das den Etablierten fehlt. Das Problem ist, daß diese Parteien aber nationalistisch orientiert sind und keine europäische Perspektive haben.

Auch der große Europäer de Gaulle vertrat das Konzept eines "Europa der Vaterländer".

Judt: Das ist nicht zu leugnen, doch bestenfalls könnte man die Ideen dieser Parteien "kleineuropäisch" nennen. Was nützt ein vitaler politischer Wille, wenn er sich aber letztlich gegen Europa richtet? Dennoch haben Sie recht, es ist durchaus vorstellbar, daß genau dieser politische Wille in Zukunft viele Europäer gewinnen wird. Um so wichtiger ist es, daß das EU-Establishment endlich zur Reform seiner europäischen Vorstellungen kommt. Sie müssen endlich klar sagen, daß es keine zentrale Regierung in Brüssel geben wird! Streichen wir diesen Punkt aus der Diskussion! Die Souveränität wird auch in Zukunft bei den Nationalstaaten liegen. Diese werden sich jedoch im 21. Jahrhundert ohne die EU alleine auch nicht bewähren können.

 

Prof. Dr. Tony Judt ist Leiter des Erich-Maria-Remarque-Instituts für Europäische Studien an der Universität von Neu York. Zuvor lehrte der britische Historiker in Cambridge, Oxford und in Berkeley. Der Autor zahlreicher Bücher gilt als "einer der besten Kenner Europas unter den in Amerika lehrenden Zeithistorikern" (Süddeutsche Zeitung) und schreibt für renommierte amerikanische und europäische Zeitungen und Zeitschriften wie die New York Times, The New York Review of Books oder das Times Literary Supplement. In den USA und Großbritannien ist jüngst sein umfassendes Werk "Postwar - A History of Europe since 1945" (Penguin/Heinemann, 2005) erschienen. Geboren wurde Judt 1948 in London.

 

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