© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/06 24. März 2006

Sorry, wir haben uns geirrt
Jahrestag der Irak-Invasion: Unter den liberalen Falken macht sich Ernüchterung breit
Elliot Neaman

Als Saddam Hussein im August 1990 in Kuwait einmarschierte, brachte George H. W. Bush eine internationale militärische und diplomatische Koalition zusammen, die den irakischen Diktator erfolgreich aus dem ölreichen Scheichtum vertrieb. Für außenpolitische Realisten war dies eine einfache Entscheidung. Saddam saß auf den zweitgrößten Ölvorräten der Welt. Wenn er als nächstes in Saudi-Arabien einfiel, was allen Beteiligten vorstellbar schien, wäre er der mächtigste Ölfürst der Welt.

Seitdem Öl zum Lebenselixier der modernen industriellen Weltwirtschaft wurde, hatten die Großmächte in der Persischen Golfregion stets ein Mächtegleichgewicht erzwungen. Vor allem aus Sorge um dessen Erhalt unterstützten die USA in den achtziger Jahren den Irak im Kampf gegen den Iran. Diese neuerliche Bedrohung des Mächtegleichgewichts war sehr viel ernster - ein Großteil der Menschen in aller Welt teilte diese Sicht. Schon damals erhoben sich Proteste, Kriegsgegner skandierten: "Kein Blut für Öl". Doch die meisten begriffen, daß es keine schlechte Idee war, einem größenwahnsinnigen Massenmörder Paroli zu bieten, bevor er die ganze industrielle Welt erpressen konnte.

Nachdem General Schwarzkopfs Truppen Saddams Republikanische Garde in Grund und Boden geschlagen hatten, beschlossen Präsident Bush und seine Berater, Saddam im Amt zu belassen. Sie befürchteten einen Bürgerkrieg und wollten sich den Irak nicht aufbürden, falls es dazu käme.

Rechten "Realisten" mißfiel Bushs missionarischer Eifer

Aufgrund jener fatalen Entscheidung, Saddam an der Macht zu lassen, sahen sich die irakischen Kurden im Norden des Landes und die Schiiten im Süden blutigen Vergeltungsschlägen ausgesetzt. Nachdem ihr klarwurde, daß es ein Fehler gewesen war, Saddam noch einmal davonkommen zu lassen, deklarierte die Koalition diese Gebiete zu Flugverbotszonen, um Saddams Herrschaft auf die sunnitisch dominierte Landesmitte zu beschränken. Die kurdische Demokratie und Zivilgesellschaft blühten und gediehen, während die Schiiten einen Schutz genossen, wie ihn nur F-16-Geschwader bieten können. Die US-Streitkräfte blieben in Saudi-Arabien, und die Heiligen Krieger begannen, wie wir heute wissen, die ungläubigen Invasoren ins Visier zu nehmen.

Saddam war nun gezwungen abzurüsten und erklärte sich bereit zur Aufgabe seiner chemischen Waffen, die er bei verschiedenen Anlässen eingesetzt hatte, sowie aller Programme zur Entwicklung von biologischen und Atomwaffen. Seine Weigerung, den von der Internationalen Atombehörde und den Vereinten Nationen angesetzten Inspektionen zuzustimmen, führte zu Sanktionen, die Saddam geschickt unterlief, indem er sein Öl im Rahmen des mittlerweile für seine undichten Stellen berüchtigten "Öl für Lebensmittel"-Programms verkaufte.

Kriegsgegner behaupteten, aufgrund dieser Maßnahmen verhungerten Millionen von irakischen Kindern, und verlangten ihre Rücknahme, die Aufhebung der Flugverbotszonen sowie ein Ende der Bombardierungen. Weil er wußte, wie wenig Unterstützung die Sanktionen und die Bomben im Westen fanden, verfolgte Saddam eine Taktik der Widerspenstigkeit, bis ihm absolut keine andere Wahl mehr blieb, als nachzugeben.

Dank des allseits gepriesenen Duelfer-Berichts wissen wir heute, daß Saddam zu diesem Zeitpunkt um eine Wiederaufnahme seiner sämtlichen Waffenprogramme bemüht war - wenngleich er wenig Erfolg hatte und möglicherweise von seinen eigenen Wissenschaftlern belogen wurde. Dieses Katz-und-Maus-Spiel ging während der gesamten Clinton-Präsidentschaft weiter, bis George W. Bush ins Weiße Haus einzog und Selbstmordattentäter am 11. September 2001 das New Yorker Welthandelszentrum in Schutt und Asche legten.

Spulen wir vor auf 2003. Es ist kein Geheimnis, daß der Irak-Krieg nicht nur die Rechte, sondern die Linke spaltete. Die "Realisten" des rechten Flügels waren entsetzt ob des missionarischen Eifers der Bush-Krieger, die ganze Welt mit den Segnungen der US-amerikanischen Demokratie zu beglücken. Sie beurteilten andere Länder nach ihrem Nutzen für die Förderung amerikanischer Interessen und nicht etwa danach, ob ihre politischen Institutionen demokratisch oder autoritär waren. Die Neokonservativen sahen sie als Neulinge im politischen Geschäft, viele von ihnen Juden, umweht von einem Hauch des Trotzkismus - angesichts so manchen Lebenslaufs war diese Einschätzung gar nicht so falsch.

Die Neocons beabsichtigten die amerikanische Macht einzusetzen, um Diktaturen auszumerzen und allerorten demokratische Regime einzusetzen, notfalls mit Gewalt. Die Linke dagegen hing von jeher eher einem liberalen Internationalismus an, der den Krieg höchstens als letztes Mittel ansah. Doch war die Mauer, die die Neocons von manchen Linken trennte, niedrig genug, um über sie hinwegzuspähen. Einigen waren die Hoffnungen der sechziger Jahre auf eine weniger zynische und dafür um so progressivere globale Außenpolitik in guter Erinnerung geblieben, und diese hehren Gefühle schienen auf einmal in den Washingtoner Korridoren der Macht statt in John-Lennon-Liedern den Ton anzugeben.

Rechten "Realisten" mißfiel Bushs missionarischer Eifer

Im Vorfeld des letzten Irak-Kriegs und während ungefähr der ersten zwölf Monate der Besatzungszeit herrschte unter einer kleinen, doch einflußreichen Gruppe liberaler Intellektueller die Einstellung vor, daß der Reiz dieser neokonservativen Ketzerei größer sei als ihre Abneigung gegen die Republikaner und ihre Verachtung für den Präsidenten. Viele von ihnen hatten astreine linke Stammbäume, Paul Berman etwa, ein ehemaliger radikaler Studentenführer an der Columbia-Universität, der regelmäßig für Publikationen wie Dissent, The Nation, Village Voice und den New Yorker schrieb. Oder Tom Friedman, der außenpolitische Kolumnist der New York Times, der zwar kein Noam Chomsky, aber auch kein Charles Krauthammer war.

Selbst beim erzliberalen Intellektuellenmagazin The New Yorker fanden Herausgeber David Remnick und Kriegsberichterstatter George Packer gute Gründe, den Irak-Krieg zu befürworten. Auch der Menschenrechtsexperte Michael Ignatieff, Gore Vidals Biograph Fred Kaplan, der britische Vorzeigeliberale Christopher Hitchens und viele andere, darunter der Autor dieser Zeilen, zählten zu den Querdenkern und Abtrünnigen, die sich auf die Seite der Regierung schlugen.

Der anfängliche Erfolg der Invasion bestärkte diese Neoradikalen - ihr riskantes Bündnis mit den republikanischen Teufeln schien sich ausgezahlt zu haben. Nach unerklärlichen Fehltritten der Übergangsregierung folgte auf den begrüßenswerten Sturz eines blutigen Diktators jedoch ein blutiger Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten, während die Kurden sich in eine vorsichtige Autonomie zurückzogen, um das Ende des Sturms abzuwarten.

Dieses Chaos hält mittlerweile seit fast drei Jahren an. Viele der geläuterten Liberalen behaupten nun, der Traum von einem demokratischen Irak hätte sich verwirklichen lassen, hätte das Pentagon die Armee des Landes nicht aufgelöst, sondern die innere Sicherheit zur Priorität gemacht, mehr Bodentruppen entsandt, die Grenzen gegen Widerstandskämpfer von außerhalb abgeriegelt usw. (eine lange Liste wie diese war recht einfach zu erstellen). Niemand habe damit rechnen können, daß Bush und seine Leute etwas, dessen Gelingen so eindeutig in ihrem Interesse lag, dermaßen versauen konnten, jammerten sie.

Diese Klage klingt plausibel und erklärt sowohl unsere ursprüngliche Begeisterung wie unsere heutige Desillusionierung. Jedoch verkennt sie die tieferen Ursachen. Nach wie vor besteht eine Chance - wenn auch die Wahrscheinlichkeit nicht höher als 50 Prozent liegen mag -, daß letztendlich im Irak eine stabile Regierung entsteht und ein wie auch immer gearteter Friedensschluß zwischen den Konfliktparteien ausgehandelt werden kann. Nicht zuletzt aufgrund der riesigen irakischen Ölbestände liegt es im allseitigen Interesse, zu einem Einvernehmen zu kommen.

Wie auch immer die Zukunft aussehen wird, den neokonservativen Phantasievorstellungen wird sie nicht entsprechen, noch wird der Irak dem Rest des Mittleren Ostens den Weg zur Demokratie leuchten. Daß der Iran als Sieger hervorgeht, in seinen nuklearen Ambitionen wie seinem anti-israelischen und anti-amerikanischen Kurs gestärkt, steht bereits fest.

Für viele Neoradikale wird die Konsequenz aus ihrem interventionistischen Abenteuer jedoch keine Rückkehr zur rosigen Weltsicht des liberalen Internationalismus sein. Die Lehre, die es aus dem Irak zu ziehen gilt, lautet wohl, daß die Verbreitung von Menschenrechten und Demokratie in der heutigen Welt ein unerfüllbarer Wunschtraum ist - nicht weil die amerikanische Freiheitsrhetorik in vielen Ländern der Welt mit tiefem Mißtrauen aufgenommen wird, sondern weil Fanatismus, Tyrannei und Autoritarismus auf viele Menschen, selbst wenn sie eine echte Wahl haben, eine stärkere Anziehungskraft ausüben als Freiheit. Dies ist eine ernüchternde Erkenntnis, und sie sollte jedem zu denken geben, der sich mit der uralten Hoffnung auf Weltfrieden trägt.

 

Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco.

Foto: US-Soldat im Feldlazarett in Tikrit: Auf den Sturz eines blutigen Diktators folgte ein blutiger Bürgerkrieg

Foto: Irakische Kinder vor den Ruinen von Saddams Regierungsgebäuden


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