© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/06 24. März 2006

Das Elend der besseren Welten
von Peter Kuntze

Angesichts des dramatischen Werteverfalls und vor dem Hintergrund der islamischen Herausforderung setzen viele Konservative ihre Hoffnung in eine Re-Christianisierung der europäischen Gesellschaften. Doch auch wenn mancherorts eine neue Sehnsucht nach dem Religiösen sichtbar wird, dürfte jene Hoffnung vergebens sein. Seit der Trennung von Kirche und Staat hat das Christentum im aufgeklärten Europa als relevanter Machtfaktor ausgespielt. Schon vor zweihundert Jahren blieb Novalis, einer der Wortführer der deutschen Romantik, mit seinem Wieder-belebungs-Manifest "Die Christenheit oder Europa" ohne Echo. Es sind nicht nur die intellektuellen Absurditäten wie Erbsünde-Lehre, Jungfrauen-Geburt und leibliche Auferstehung, an denen die christliche Konfession gescheitert ist, vielmehr richten sich die Einwände der Vernunft seit der Antike gegen den Mythos eines Gottes, der wie ein orientalischer Zauberer das Universum aus dem Nichts geschaffen haben soll.

So fragte bereits Epikur (340-170 v. Chr.), weshalb sich jener Erbauer der Welt plötzlich ans Werk gemacht habe, nachdem er während ungezählter Äonen untätig gewesen sei. Habe er bis dahin die Arbeit gescheut? Sei ihm auf einmal langweilig geworden? Oder habe er alles nur für die Menschen getan - für Wesen also, die noch gar nicht existierten? Hierauf wußte Luther lediglich zu erwidern: "Gott ist in den Wald gegangen, um sich eine Rute zu schneiden, mit der er jene verdreschen kann, die derartige Fragen aufwerfen." Und auch der Kirchenvater Augustinus vermochte in seinen "Confessiones" keine schlüssige Antwort zu geben: "Ich sage mit Zuversicht: Bevor Gott Himmel und Erde machte, machte er nichts. Denn wenn er etwas machte, was machte er, wenn nicht ein Geschöpf? (...) Alle Zeiten hast Du gemacht. Vor allen Zeiten bist Du, und man kann nicht von irgendeiner Zeit sprechen, wenn keine Zeit war. Es gab also keine Zeit, in der Du nichts gemacht hättest, denn Du hast die Zeit selbst gemacht."

Ausgehend von der Prämisse einer göttlichen "Schöpfung aus dem Nichts" (creatio ex nihilo), stellte sich schon in der Antike das Theodizee-Problem, also die Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt. Auch diese Frage hatte bereits Epikur aufgeworfen: Wenn der Schöpfergott das Übel nicht verhindern könne, sei er nicht allmächtig; wenn er es aber nicht verhindern wolle, sei er nicht alliebend.

Während der Tsunami-Katastrophe im Dezember 2004, die mehr als 200.000 Todesopfer forderte, konnten die Repräsentanten der christlichen Konfessionen - wie schon 1755 beim Erdbeben von Lissabon - ihre Ratlosigkeit kaum verbergen. Der Glaube lehre, daß Gott die Menschen auch in den schwersten und schmerzhaftesten Prüfungen niemals allein lasse, erklärte Papst Johannes Paul II. Im Weihnachtsgeschehen sei Gott zu den Menschen gekommen, um ihre Existenz zu teilen. Christi Liebesgebot sei als seine Botschaft die Basis für die Hoffnung auf eine bessere Welt.

Nicht viel erbaulicher waren die Worte des EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Wolfgang Huber: "Auch ich habe mit der Frage gerungen, wie Gott den Tod so vieler Menschen zulassen konnte. Ich kann es nachempfinden, wenn Menschen in einer solchen Lage zweifeln, ja verzweifeln. Aber ich glaube fest, daß Gott nicht den Tod, sondern das Leben will. Und doch ist der Tod noch ein Teil dieser nicht erlösten Welt. Aber er hat nicht das letzte Wort. Ich vertraue darauf, daß die Opfer dieser Flutkatastrophe bei Gott gut aufgehoben sind." Im übrigen bedeute Gottes Allmacht nicht, daß er alles Böse und Unbegreifliche verhindere. Vielmehr zeige sie sich "in der Liebe, mit der Gott sich uns zuwendet, damit wir uns auch angesichts des Unbegreifliche an ihr orientieren". Die ganze Hilf- und Ratlosigkeit hinsichtlich des Theodizee-Problems offenbarte Joseph Kardinal Ratzinger am 24. April 2005 in seiner Inaugurationsrede als Papst Benedikt XVI.: "Wie oft wünschten wir, daß Gott sich stärker zeigen möge, daß er dreinschlagen würde, das Böse ausrotten und die bessere Welt schaffen!"

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Wer das Konzept der One World, der klassen- und staatenlosen Globalgesellschaft, als Erlösung im Diesseits anstrebt, will durch die Aufhebung aller Gegensätze und Widersprüche das "Ende der Geschichte" herbeiführen.

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Die Hoffnung auf eine "bessere" Welt, da die gegenwärtige noch "nicht erlöst" sei - hierin zeigt sich der Dualismus der monotheistischen Religion, der zu verhängnisvollen Entwicklungen geführt hat. Während das Christentum in West- und Mitteleuropa nach verheerenden Religionskriegen, nach Inquisition, Kreuzzügen und Ketzerverbrennungen zur Privatangelegenheit unter staatlichem Schutz herabgestuft worden ist, zeigen evangelikale (Regierungs-) Fundamentalisten in den USA und islamistische Kämpfer, welche Kraft nach wie vor in einer globalen Glaubensmission steckt.

Die Etiketten "links" und "rechts", "progressiv" und "konservativ" sind zwar jüngeren Datums, doch im Grunde beinhalten sie ein geistiges Ringen, das - avant la lettre - das abendländische Denken seit mehr als 2.500 Jahren beschäftigt. In dieser Auseinandersetzung, die sich bis auf den heutigen Tag als eine Art geistiger Bürgerkrieg in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens verfolgen läßt, geht es - bewußt oder unbewußt - um nichts Geringeres als um das allem Handeln und Denken zugrunde liegende Welt- und Menschenbild.

Der große Bruch setzte mit Plato ein. Bis dahin dominierte im Abendland die Naturphilosophie der ionischen Vorsokratiker, die in der Erkenntnis gipfelt, daß das Universum ungeschaffen, allumfassend, ewig und unendlich sei - eine Erkenntnis, die auch durch die spekulative Urknall-Theorie nicht widerlegt ist, bleibt doch allenfalls die Frage offen, was vor dem Urknall war. Die einfachste Antwort der Vorsokratiker auf die erste aller Fragen: "Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr Nichts?" lautet nämlich: "Weil von Nichts nichts kommt, ist etwas." Eine creatio ex nihilo scheidet somit - ebenso wie ein "Urknall" - als vernunftwidrig aus.

Die Welt ohne Anfang und ohne Ende, also ohne Erst-Ursache und ohne End-Zweck, mithin die ewige Wiederkehr als naturhafter Prozeß, der sich nur mit verschiedenen Darstellern und in wechselnden Kostümen vollzieht - das ist die Idee von der Einheit der Natur, von der Vollkommenheit und Notwendigkeit des Daseins, in der das "Böse" und das "Gute" sein Recht hat. Alles Sein, so der Kerngedanke der Vorsokratiker - die man als Begründer der "ewigen Rechten" bezeichnen könnte -, muß einen gemeinsamen Ursprung haben. Hinter dem Wechsel der Erscheinungen, wie ihn das Leben der Natur in Sommer und Winter, Blühen und Verwelken, Geburt und Tod zeigt, steht ein allen Dingen gemeinsamer, unzerstörbarer, in seinem innersten Wesen unveränderlicher Urgrund (arché). Dieser Urstoff - in tausendfältiger Wandlung begriffen (Heraklit) - bringt alle Dinge aus sich hervor, nimmt sie aber auch seinerseits wieder in sich zurück und verursacht so den ewigen Wandlungsprozeß. Man kann die vorsokratischer Erkenntnis auf eine prägnante Weltformel bringen: "Eins ist alles - alles fließt".

In Wahrheit ist diese vor 2.500 Jahren entwickelte Idee des Universums als perpetuum mobile Europas "eigene" oder "andere Religion" (Sigrid Hunke). Sie ist vielfach variiert worden - als Monismus oder Unitarismus, als Pantheismus oder Holismus. Zu ihren Verfechtern gehörten Pelagius und Meister Eckart, Nikolaus von Kues und Giordano Bruno, Spinoza, Lichtenberg und Hölderlin, Goethe, Nietzsche und Teilhard de Chardin. Im Zentrum ihres Denkens stand dabei stets die Überzeugung, daß es keine Materie ohne Geist, keinen Geist ohne Materie, daß es keinen Inhalt ohne Form, keine Form ohne Inhalt, keine Bewegung ohne Materie und keine Materie ohne Bewegung gibt - kurz, daß der Kampf und die Einheit der Gegensätze oder Widersprüche die Dialektik des Lebens selbst bedeuten, wobei die Einheit als Gleichgewicht oder Ruhe nur temporär und relativ, der Kampf aber dauerhaft ist. Das "Absolute", das "Ewige" sind aus dieser Perspektive lebensverneinende Vorstellungen und künstliche Ideale; Begriffe wie "ewige Seligkeit", "ewiges Leben" oder "ewiger Frieden" sind Synonyme für den Tod.

Wer derartige Ziele anstrebt, will das ständig fließende "Alles" zum Stillstand bringen und durch die Aufhebung aller Gegensätze und Widersprüche das "Ende der Geschichte" herbeiführen: Wo "Alles" ist, soll "Eins" werden - sei es die ewige paradiesische Ruhe als Erlösung im Jenseits, sei es das Konzept der "one world", der klassen- und staatenlosen Globalgesellschaft, als Erlösung im Diesseits.

Im Gegensatz zu diesem linearen Denken, das die menschliche Geschichte als göttlichen Heilsplan oder als Selbstermächtigung zu einem unaufhaltsamen "Fortschritt" begreift, steht das zyklische Konzept der Vorsokratiker. Vom Sein (Ursprung, Urstoff, "Gott") ins Seiende (Geburt, Individuation) und vom Seienden zurück ins Sein - das ist der ewige Kreislauf des "Eins ist alles, alles ist eins". Da das Universum allumfassend ist, kommt nichts hinzu und verschwindet nichts, das zeitliche Leben kehrt in den Schoß des Ewigen zurück, um von dort irgendwann - neu verwandelt - wieder ins Zeitliche zu treten. Schopenhauer sagt: "Wir werden nach dem Tod das und dort sein, was und wo wir vor der Geburt waren." Das All ist mithin die Ausfaltung seines (eingefalteten) Urgrundes in das je gegensätzlich Seiende. Alles Leben, alles Geschehen, der gesamte Kosmos sind Verzeitlichungen des Ewigen, Verendlichungen des Unendlichen, sie sind das Seiende des sich im ewigen Werden und Vergehen entfaltenden Seins; das göttliche Sein ist die Einheit der Gegensätze, in denen "das Eine sich vielfach offenbart" (Goethe).

Im europäischen Denken hat Plato (427-347 v. Chr.) jene Einheit der Natur gesprengt, indem er der konkreten Wirklichkeit den abstrakten Himmel der Ideen als eine zweite, "bessere" Welt gegenüberstellte. Dieser Dualismus, der Körper und Seele, Materie und Geist wieder auseinanderriß und die Gegenwart zugunsten einer erträumten Zukunft abwertete, ist seitdem die Grundlage des Denkens der "ewigen Linken" - ob im religiösen oder im säkularen Gewand.

Für alle Marx-Jünger hat Ernst Bloch die ins Weltliche gewandte missionarische Erlösungsgläubigkeit idealtypisch ausgedrückt: "Ubi Lenin, ibi Jerusalem" ("Wo Lenin ist, da ist Jerusalem") - und das noch zu einer Zeit, als die Schrecken der stalinistischen Gulags längst bekannt waren. Doch die eschatologischen Kreuzzüge der Ewigmorgigen waren und sind stets durch eine tiefe Blutspur gekennzeichnet: vom mittelalterlichen Christentum war bereits die Rede, zur Zeit versuchen die islamischen Dschihadisten, die Welt in eine große "umma" zu verwandeln; Millionen von Toten forderte der Klassen-Messianismus des Marxismus, zu dessen erbittertem Widerpart sich der Nationalsozialismus entwickelte, der in einem Völkermord zur "Erlösung des arischen Blutes" gipfelte. Seit dem Ende des Kalten Krieges ist es der westliche Liberalismus, der mit militantem Demokratie-Export, Interventionskriegen im Zeichen der "Humanität" und einem arroganten Menschenrechts-Imperialismus die Welt nach seinem Bilde formen möchte.

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Eines Tages dürften die westlichen Moral-Ritter froh sein, wenn nach absehbarem Scheitern ihrer "demokratischen" Weltmission wieder die jetzt von ihnen außer Kraft gesetzten Regeln friedlicher Koexistenz gelten würden.

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Das manichäische Weltbild, das allen dualistischen Konzepten zugrunde liegt, moralisiert die Frage nach "richtig oder falsch" zu einer nach "gut oder böse", es entmenschlicht seine jeweiligen Feinde und verwandelt kriegerische Auseinandersetzungen in Kreuzzüge, bei denen es keine ehrenhaften Friedensschlüsse mehr gibt - getreu dem Motto: "Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein". Dieses Menschenbild, das für alle das Gleiche erstrebt, steht im Gegensatz zu jenem, das sich aus dem monistischen Weltbild ergibt: Hier wird, wie in der Natur, jedem das Seine zuteil, und der Einzelne ist aufgerufen, im Sinne von Nietzsches "amor fati" im Dasein standzuhalten. Doch da der Mensch ein "Mängelwesen" (Arnold Gehlen) ist, kann und muß er sich zur Lebensbewältigung auf Kräfte stützen, die größer sind als er selbst - auf Familie, Heimat, Volk, Nation, gesellschaftliche Institutionen. Diese Werte indes wurden seit der Aufklärung ständig "dekonstruiert", so daß jetzt kaum mehr etwas übriggeblieben und das Individuum der westlichen "Postmoderne" ein armseliges Wesen geworden ist - nackt, abstrakt, bindungslos und sinnentleert.

Besonders prekär ist die Situation in Deutschland, denn seine führenden Kräfte haben nach 1945 offensichtlich die falschen Lehren aus der jüngsten Geschichte gezogen. Innenpolitisch ist das Land von einem Extrem ins andere gefallen - statt des nationalsozialistischen "Du bist nichts, dein Volk ist alles" gilt heute die individualistische und antiautoritäre Devise "Du bist alles, dein Volk ist nichts". Kein Wunder, daß die Menschen der rapide fortschreitenden muslimischen Landnahme hilf- und ratlos gegenüberstehen. Daß aus dem "deutschen Volk" eine multikulturelle "Bevölkerung" wird, zeigt sich längst in jeder Großstadt. Auch in der Außenpolitik hat Deutschlands "langer Weg nach Westen" (Heinrich August Winkler) in eine Sackgasse geführt: Daß die Freiheit des Landes "am Hindukusch" verteidigt wird, ist humanitär kaschierter Neo-Imperialismus als falsch verstandene Konsequenz aus Auschwitz.

Wer als Konservativer die Rückbesinnung auf Europas wahre Werte erhofft, sollte daher nicht von einer Re-Christianisierung träumen. Was not tut, ist vielmehr eine zweite Renaissance als Wiederentdeckung des antiken Denkens. Auch wenn angesichts des Erstarkens des Islams und des globalen Ausgreifens des militanten Liberalismus die Zeichen momentan nicht günstig stehen, gibt es auf lange Sicht keinen Grund zum Pessimismus. Im Verlauf der Geschichte ist bisher noch jeder Dualismus an den ewigen Fakten des Lebens gescheitert, denn "die Wirklichkeit ist immer rechts" (Joachim C. Fest). Und von zeitloser Gültigkeit ist auch Machiavellis Satz: "Die Welt bleibt stets dieselbe, nur die Machtverhältnisse wechseln."

Eines Tages dürften die westlichen Moral-Ritter daher froh sein, wenn nach dem absehbaren Scheitern ihrer "demokratischen" Weltmission und nach einem Aufstieg Indien und China zu dominanten Mächten die jetzt von ihnen außer Kraft gesetzten Regeln der friedlichen Koexistenz wieder gelten würden: die Achtung der nationalen Souveränität und der territorialen Integrität sowie die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Völker. Erst wenn diese Prinzipien erneut überall gelten, und erst wenn auch der Islam durch das Säurebad einer muslimischen Aufklärung gegangen ist, besteht Hoffnung, daß der "clash of civilizations" (Samuel Huntington) nicht in ein globales Blutbad mündet.

 

Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war von 1968 bis 1997 Redakteur der "Süddeutschen Zeitung". Es ist Autor mehrerer Sach- und zahlreicher Kinderbücher.

Foto: René Magritte: Le Double secret (Der geheime Doppelgänger), 1927, Öl auf Leinwand Centre Pompidou, Paris Musée national d'art moderne:


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