© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/06 31. März 2006

Pressestimmen

Nur für wenige ist es Schnee von gestern
Eine Untersuchung über "Flucht und Vertreibung aus Sicht der deutschen, polnischen und tschechischen Bevölkerung" enthüllt Überraschendes
Martin Schmidt

Erstmals seit Jahrzehnten gibt es eine Meinungsforschungs-Studie zu "Flucht und Vertreibung". Die im Dezember eröffnete Wechselausstellung "Flucht, Vertreibung und Integration" im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn (JF 3/06) vermochte nicht ganz zu überzeugen. Eine andere, weniger bekannt gewordene Initiative des Bonner Geschichtsmuseums verdient demgegenüber ausschließlich Lob: die Veröffentlichung einer vom Allensbacher Institut für Demoskopie in Zusammenarbeit mit dem Linzer Imas-Institut durchgeführten repräsentativen Meinungsforschungs-Studie über "Flucht und Vertreibung aus Sicht der deutschen, polnischen und tschechischen Bevölkerung".

Die ergänzend zur Ausstellung bereits 2002 in Auftrag gegebene Studie schließt eine große Lücke, denn regelmäßige demoskopische Erhebungen zu diesen Kriegs- und Nachkriegsleiden wurden auch vom national bedeutendsten Meinungsforschungsinstitut in Allensbach nur bis in die frühen 1960er Jahre durchgeführt. Danach schien das öffentliche Interesse zu gering, was mittlerweile offensichtlich anders geworden zu sein scheint. Nicht nur die zahlreichen Presseartikel, Buchneuerscheinungen und TV-Dokumentationen über Flucht und Vertreibung belegen das, sondern auch die Ende 2005 erschienenen und von Thomas Petersen mit etlichen Schaubildern illustrierten Umfrageergebnisse.

Viel Interesse, wenig Kenntnisse zur Vertreibung

Demzufolge geben auf einer zehnstufigen Skala des Grads der Beschäftigung mit der Vertreibungsproblematik sechs Prozent der befragten Deutschen die beiden höchsten Stufen (9 und 10) und 38 Prozent die Stufen 5 bis 8 an. Das sind erstaunlich hohe Werte, wenn man bedenkt, daß von den drei gleichzeitig abgefragten Themenbereichen "Nationalsozialismus", "Wirtschaftswunder" und "DDR-Vergangenheit" nur der erstgenannte Komplex mehr Interesse weckt. In Westdeutschland ist der Beschäftigungsgrad der Bevölkerung mit "Flucht und Vertreibung" sogar gleich intensiv wie mit dem Nationalsozialismus, während in den östlichen Bundesländern wohl als Folge jahrzehntelanger Tabuisierung das entsprechende Interesse wie auch das Wissen geringer sind.

Das besondere an den Allensbacher Erhebungen ist nicht zuletzt die Tatsache, daß vergleichend zu den deutschen Meinungsäußerungen polnische und tschechische hinzukommen. Wohl zum ersten Mal überhaupt wurde in diesen beiden mitteleuropäischen Ländern eine Repräsentativumfrage zur Flucht und Vertreibung der Deutschen durchgeführt. Der Leser der Studie erfährt, daß das Thema Vertreibung in der Republik Polen einen ähnlich hohen Stellenwert wie im westlichen Nachbarland genießt, während das Interesse der Tschechen deutlich geringer ist.

In der Bundesrepublik Deutschland wurden im Dezember 2002 insgesamt 2.183 Personen über 16 Jahre nach einem einheitlichen Fragebogen mündlich interviewt, in der Republik Polen und in Tschechien waren es im Sommer 2004 jeweils zirka 500 Personen. Obwohl über zwei Drittel der heutigen Deutschen nach 1945 geboren wurden, antworten auf die Frage "Rechnen Sie sich oder jemand in Ihrer Familie zu den Heimatvertriebenen?" immerhin noch sieben Prozent, sie seien selbst Heimatvertriebene, und weitere 22 Prozent geben an, mindestens ein Vertreibungsopfer in der engeren Familie zu haben. Das bedeutet, daß sich infolge der zunehmenden Vermischung mit den Alteingesessenen der Anteil der vom Heimatverlust im Osten persönlichen betroffenen Menschen in den letzten Jahrzehnten nicht verringert, sondern im Vergleich etwa zum Jahr 1959 sogar leicht erhöht hat (29 gegenüber 24 Prozent). Auch rein westdeutsche Milieus werden durch Heiraten mit dieser für sie bis dahin fremden Problematik konfrontiert. Allerdings werden die Kenntnisse über die einst von Deutschen besiedelten Regionen im Osten sowie über das Ausmaß der Vertreibungskatastrophe immer geringer. Letzteres belegen die Antworten auf die Frage nach der Opferzahl.

Die Gesamtzahl der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen wird von den meisten Bundesdeutschen erheblich unterschätzt. Ein Drittel der Befragten nennt eine Zahl von unter fünf Millionen und jeder Fünfte eine zwischen fünf und zehn Millionen. Lediglich zehn Prozent ordnen die zahlenmäßige Dimension weitgehend richtig zwischen zehn und zwanzig Millionen ein. Interessant ist hier, daß die über sechzigjährigen Befragten kaum bessere Schätzungen als die unter dreißigjährigen abgeben. Die Allensbacher Studie zeigt, wie sehr die geographischen Kenntnisse über den alten deutschen Osten dahinschwinden.

Dies zeigt sich beispielsweise anhand einer Liste mit Städtenamen und der Frage: "Aus welchen dieser Städte sind am Ende des Zweiten Weltkrieges viele Deutsche vertrieben worden?" Mehrheitlich richtige Zuordnungen gab es nur bei der ostpreußischen Hauptstadt Königsberg (siebzig Prozent), die infolge einer regen Presseberichterstattung geradezu mythischen Charakter besitzt, sowie bei Breslau (65 Prozent) und dem touristisch gefragten Danzig (61 Prozent). Bei Stettin, Marienbad und Brünn weiß bloß noch jeder Dritte bis Fünfte, daß von dort ebenfalls zahlreiche Deutsche vertrieben wurden.

Geschichtspolitisch besonders relevant ist eine Frage, die untersucht, inwiefern die Bevölkerung das Thema als aktuell bewertet und die Erinnerung an die Leiden deutscher Vertreibungsopfer für wichtig erachtet. Es wurde eine Liste verschiedener Bewertungen zusammengestellt, von der die folgende Formulierung mit 59 Prozent die größte Zustimmung erhielt: "Das Thema ist immer noch aktuell, denn auch heute noch gibt es Flucht und Vertreibung." 55 Prozent der Befragten unterstützen zudem die Aussage "Das Thema geht uns alle an (...) das ist einfach Teil unserer Geschichte", und 21 Prozent geben sogar an, ihnen gehe das Thema "persönlich nah". Andererseits bekannten lediglich 18 Prozent, daß sie das Vertreibungsschicksal als "Schnee von gestern" betrachten, und zehn Prozent halten die Aussage für richtig, es sei "schlimm, daß ausgerechnet die Deutschen dieses Thema wieder hochbringen".

Gefragt nach der Notwendigkeit eines Zentrums gegen Vertreibungen in Berlin, befürwortete etwa jeder Dritte das Vorhaben, während eine relative Mehrheit von 45 Prozent die Ansicht vertritt, man brauche ein solches Zentrum nicht. Unter den Vertriebenen selbst gibt es merkwürdigerweise nur eine knappe Mehrheit von 51 Prozent für das BdV-Projekt.

Nicht minder aufschlußreich als die deutschen Umfrageergebnisse sind die polnischen und tschechischen. Vor allem wird deutlich, wieviel stärker die Vertreibung eigener Landsleute nach dem Krieg die polnische Bevölkerung im Vergleich zur deutschen beschäftigt. Mit einem Durchschnittswert von 4,6 auf der erwähnten Zehner-Stufenleiter ordnet sie diese Problematik ein. Auch die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Schlesien, Pommern, Ostbrandenburg oder West- und Ostpreußen findet mit einem mittleren Wert von 4,0 viel Aufmerksamkeit (zum Vergleich: in Tschechien liegt dieser Wert bei 3,2). Allerdings wird die Dimension der Vertreibung mit einer Zahl von durchschnittlich 3,5 Millionen betroffenen Deutschen im Gebiet der heutigen Republik Polen erheblich unterschätzt, während die Befragten die eigenen Vertreibungsopfer aus Ostgalizien und Litauen deutlich zu hoch angeben. Hier liegt der mittlere Wert bei 3,9 Millionen gegenüber der wirklichen Zahl von 1,5 Millionen. Derart schiefe Geschichtskenntnisse erklären auch die regelmäßige öffentliche Empörung der polnischen Öffentlichkeit, wenn vom westlichen Nachbarn die Vertreibungsfrage vorgebracht wird oder gar etwaige polnische Wiedergutmachungsgesten zur Debatte kommen, da man mehrheitlich davon ausgeht, daß die eigenen Opfer auch hier größer waren, und entsprechend aufrechnet.

Die Kenntnisse der heutigen Polen über die einstigen Ostprovinzen des Deutschen Reiches sind noch dürftiger als die der Bundesdeutschen, obwohl es sich bei den Territorien um heutiges polnisches Staatsgebiet handelt. Dabei macht es so gut wie keinen Unterschied, ob die Befragten nahe der polnischen Ostgrenze oder innerhalb der deutschen Grenzen von 1937 zu Hause sind.

61 Prozent der Polen rechnen mit deutscher Rückforderung

Das vielleicht deprimierendste Ergebnis der Allensbacher Meinungsumfrage ist die Tatsache, daß sich die meisten Polen wie Tschechen zu Bewertungen über die Vertreibung der Deutschen bekennen, die den Charakter von Rechtfertigungen besitzen oder gar von regelrechtem Deutschenhaß zeugen. Die meiste Zustimmung erhält die Formulierung "Ohne die deutsche Besatzung wäre es doch gar nicht zur Vertreibung der Deutschen gekommen" (29 bzw. 31 Prozent), gefolgt von "Ich finde, das ist Schnee von gestern" (21 bzw. 27 Prozent) und "Diese Maßnahme war richtig, weil ein Zusammenleben (...) gar nicht mehr möglich gewesen wäre" (18 bzw. 20 Prozent). Erschreckende zehn Prozent bejahen die Aussage: "Es war richtig, die Deutschen zu vertreiben. Schließlich waren die meisten von ihnen Nazis." Differenzierende Meinungen wie "Damit muß man sich auseinandersetzen. Das ist Teil unserer Geschichte" (14 bzw. 17 Prozent) oder "Ich finde es gut, daß jetzt offen darüber gesprochen wird. Vor 1989 war das ja nicht möglich" (je zehn Prozent) werden nur von einer kleinen Minderheit unterstützt.

Das selbstverständliche Nationalbewußtsein der Polen, das mitunter chauvinistische Züge trägt, zeigt sich in den Antworten auf die Frage nach der Wahrscheinlichkeit, "daß die deutsche Regierung eines Tages ehemalige deutsche Gebiete und Besitztümer in Polen zurückfordern oder dafür Entschädigungen verlangen wird". Eine Mehrheit, nämlich 61 Prozent, hält dies für "sehr wahrscheinlich" oder "wahrscheinlich". Dabei schätzen interessanterweise die heute in den früheren Ostgebieten lebenden Polen die bundesdeutsche Politik realistischer ein - wohl aufgrund der Eindrücke aus Gesprächen mit sogenannten "Heimwehtouristen". Von ihnen halten nur vierzig Prozent Gebietsrückforderungen bzw. Entschädigungsansprüche für wahrscheinlich, was in etwa der Quote für die Tschechische Republik entspricht (38 Prozent).

Thomas Petersen: Flucht und Vertreibung aus Sicht der deutschen, polnischen und tschechischen Bevölkerung, Reihe "Zeit-Fragen" der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2005, 127 Seiten, broschiert, Euro 9,90

Foto: Besucher in der Ausstellung "Zweite Heimat", Wittenberg 2004: Einfach ein Teil unserer Geschichte


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