© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/06 07. April 2006

"Die Lehrer haben keinen Respekt vor uns"
Ortstermin: Am Freitagmorgen stand die Rütli-Schule in Berlin-Neukölnn im Mittelpunkt des deutschen Medieninteresses
Moritz Schwarz

Gestern flogen Steine. Gestern entkam JF-Reporter Ronald Gläser mehr oder weniger knapp einer Gruppe ausländischer Jugendlicher (siehe Bericht Seite 5). Wie andere Journalisten wurde auch er von Rütli-Schülern bedroht und angegriffen.

Freitag, 7.30 Uhr, eine halbe Stunde vor Schulbeginn. Nach dem Brandbrief der Lehrer und den Ausschreitungen vom Vortag steht die Schule im Fokus des Medieninteresses: Kamerateams, Reporter, Fotografen, Ü-Wagen. Dann die ersten Schüler: 12jährige Mädchen, keine Rowdys. "Gibt es wirklich soviel Gewalt an Eurer Schule?" "Ja - aber nicht jeden Tag." Wie beruhigend. "Was ist dir schon passiert?" - "Die kommen, fragen: 'Warum hast du über mich geredet?' Und fangen an zu schlagen." Der kleine Dienstweg zur Gewalt ist kurz.

Immer mehr Schüler tauchen auf. Vor allem Mädchen - die Jungs kommen später. Jeder Journalist will heute seine ganz persönliche Gewalt-Story, natürlich, auch die JF ist auf der Suche nach der Faust im Nacken. Wir werden reichlich bedient.

Nur der zweite Teil der Geschichte ist auch nach dem x-ten Interview nicht aufzutreiben. Das Opfer, das auspackt: "Ich halte es nicht mehr aus!" Die Realität, zumindest an diesem Morgen, an diesem Ort, laut diesen Schülern, ist eine andere: Fast alle bestätigen, sie fühlen sich an ihrer Schule wohl, fast alle verteidigen die Penne: "Unsere Schule ist nicht so schlimm! Warum macht ihr uns schlecht? Warum? Warum?"

"Normal" sei ihre Schule, sagen sie. Sie berichten von der Lehrerin, die nach einer Schülerattacke im Krankenhaus landete. Das finden sie "nicht gut", aber "normal". Von einer Schülerin, die mit einem Messer "angestochen" wurde: "nicht gut" aber "normal". Die Rütli ist normal, normal wie der Bezirk der Schüler. Langsam wird ihre Sicht verständlich. Wer von der Rütli spricht, darf von Neukölln nicht schweigen!

"Neukölln macht Kultur kaputt, unsere und die der Ausländer"

Es ist Berlins Problemkiez Nummer eins, "die Bronx", knallhart, die deutsche Banlieue von morgen. Davor warnt Neuköllns Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) schon seit Jahren. Dabei brennen hier keine Mülltonnen, und es ist sauberer als etwa in New Yorks Finanzbezirk Lower Mannhatten. Aber unter dem gutbürgerlichen "Lack" der "Rütli-Straßen" erodiert die Sozialstruktur: 30 Prozent Ausländer, 35 Prozent Arbeitslose. Über die Jahre hat hier eine völlige Neujustierung der Sozial-Codes stattgefunden. Während Politik und Öffentlichkeit über die Einwanderung einzelner Individuen per Fragebogen streiten, brechen Stadtteile mit Hunderttausenden von Einwohnern aus dem gesellschaftlichen Gefüge der Bundesrepublik aus: Das "Integrations"-Gerede ist nichts weiter als die Codifizierung des Prozesses der Desintegration - in der Sprache der politischen Korrektheit. Einer auf "Integration" fixierte Gesellschaft fehlt die Terminologie. Wer "heiß" nur als "nicht kalt" beschreiben kann, weiß nichts vom Feuer. Und so driften ganze soziale Subkontinente davon, einer davon heißt Neukölln.

Verwundert kommen die Medien der Realität langsam auf die Spur. Verwundert umkreisen sie das neue Phänomen, das sie "Respekt-Kultur" getauft haben. "Respekt" ist die Münze, in der die Habenichtse von Neukölln zahlen. Eine Anwohnerin der Rütli-Straße beschreibt den Prozeß so: "Neukölln macht Kultur kaputt, unsere deutsche Kultur und die der Ausländer. Was entsteht, ist ein Brei, in dem nur der den Kopf oben behält, der sich Respekt verschafft." Das heißt, wer sich zu nehmen vermag, was er will, und jeden bestraft, der dabei im Wege steht. "Bestraft": Denn in der "Respekt-Kultur" ist der eigene Anspruch immer legitim, der gleiche Anspruch des anderen immer illegitim.

"Respekt" ist das meistgebrauchte Wort an diesem Morgen. Den Lehrern fehlt es an "Respekt" gegenüber den Schülern, da sind sich diese einig. Das beschreiben sie so: ein Eintrag ins Klassenbuch, und der Lehrer bekommt eine Papierkugel an den Kopf. Zu Recht, denn er hat die Regel des Respekts verletzt. Danach ist für die Schüler die Ordnung wiederhergestellt, der Lehrer durchaus wieder Freund. Daß der sich aber nicht versöhnlich zeigt, sondern seinerseits nun reagiert, verstehen die Schüler nur als erneute Perfidie. Denn eine Vorstellung von Autorität, Hierarchie und Disziplin haben sie nicht. Daß zwischen Lehrern und Schülern ein natürliches Gefälle existieren könnte, ist ihnen völlig fremd. Mehrfach bezeichnen sie in diesem Unverstand das Ansinnen, diesem Gefälle Geltung zu verschaffen, hypertroph als Versuch, sie "wie Tiere zu behandeln".

Inzwischen ist es 9.30 Uhr: Als immer mehr Jungs auftauchen, wird die Stimmung feindselig. Und wieder fliegen Steine: nichts weiter als eine angemessene Antwort auf die "Unverschämtheiten" der Journalisten - in der Welt des "Respekts".

Am nächsten Tag werden die Zeitungen von "sozialen Ursachen" und "jugendtypischer Gewalt" schreiben. Laut Forsa-Umfrage sehen 87 Prozent der Berliner aber den hohen Ausländer-Anteil als Ursache an. Medien wie die ARD, der Spiegel oder die Berliner Zeitung sehen das nicht so. Sie verschweigen die Tiefenwirkung des Einwanderungsexperiments: die Auflösung der verbindlichen Ordnung. Nein, dies ist kein soziales Problem, sondern eines der Desintegration: Soziale und kulturelle Erosion führen zur Auflösung der Autorität von Werten und Institutionen. Zurück bleibt ein sozialer und kultureller Bodensatz: "Gangsta"-Mentalität und islamisch geprägter Kultur-Tiefencode amalgieren zur "Respekt-Kultur". Die ist auch stillgestellt jederzeit wieder abrufbar, wie sich an einem verblüffenden Beispiel noch zeigen soll.

Fassungslos reagieren die Schüler, als sich herumspricht, eine RTL-Journalistin habe einen von ihnen gerade angespuckt. Von Kollegen zur Rede gestellt, dies entspreche weder dem Verhalten eines Europäers noch dem eines Journalisten, auch wenn man dreimal als "Hurentochter" beleidigt wird, verteidigt sich die Frau knapp: "Ich bin Palästinenserin, wir sind eben so!"


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