© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/06 07. April 2006

Kolumne
Verantwortungsgemeinschaft
Klaus Motschmann

Seit der Bildung der Großen Koalition ist viel häufiger als zuvor von "parteiübergreifenden" Initiativen zur Lösung der katastrophalen Nöte in unserem Volke die Rede, wie man sie bisher nur im "Kampf gegen Rechts" kannte. Offenkundig beginnt sich nun auch in der "classe politique" die Erkenntnis durchzusetzen, daß ihr die Kontrolle über die Entwicklung der Finanz- und Arbeitsmarktpolitik, Zuwanderungs- und Asylpolitik, Familien- und Bildungspolitik entgleitet und zu einer "Verantwortungsgemeinschaft" herausfordert.

Nun besteht in Deutschland de facto seit langem eine derartige "Verantwortungsgemeinschaft" - nämlich derer, die für die jetzt beklagten Zustände die Verantwortung tragen. Sie lassen sich ja nur vordergründig aus dem Versagen bestimmter Regierungen, Parteien, Politiker oder Institutionen erklären, sondern in erster Linie aus dem unser Volk beherrschenden Meinungsklima, das im Laufe einer fast 40jährigen Kulturrevolution erzeugt und gepflegt worden ist. Es fällt auf, daß die verantwortlichen Meinungsmacher in unserer Mediokratie von ihrer Verantwortung für diese Entwicklung in der Vergangenheit ablenken, indem sie von der Verantwortung für die Zukunft schwadronieren. Musterbeispiele bieten die gegenwärtige Auseinandersetzung um die Gewalt an vielen Berliner Schulen und - etwas zurückliegend - die Pisa-Studie. Ist wirklich vergessen, welche Erziehungsziele vom Kinderladen über die allgemeinbildenden Schulen bis zur Universität verfolgt worden sind - und zwar mit Erfolg im Sinne der dafür Verantwortlichen? Einige wenige Stichworte sollten zur Erinnerung an diese Experimente am lebenden Objekt genügen: "Keine Erziehung zur Anpassung!" - "Mut zu Regelverletzungen" - "Selbstbestimmtes Lernen" - "Widerstand gegen die Herrschenden" - "Trau keinem über 30!" Jeder Widerspruch gegen diesen radikalen Traditionsbruch in unserem Schul- und Bildungssystem ist bekanntlich als Indiz auf eine reaktionäre, rassistische, faschistische oder ausländerfeindliche Gesinnung diffamiert worden - mit teilweise abschreckenden Konsequenzen. Auf diese Weise ist ein "Ersatzproletariat" herangezüchtet worden, das die "Systemveränderung" vorantreiben könnte. Mit diesen Erinnerungen sollen keine Schuldzuweisungen vorgenommen werden. Schuldbekenntnisse sind ohnehin nicht zu erwarten. Sehr wohl aber die Bereitschaft zur Klärung, welche Verantwortung gemeint ist. Jede ernsthafte Therapie beginnt mit einer gründlichen Diagnose - jede Diagnose mit einer Anamnese (Erinnerung).

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin.


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