© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/06 14. April 2006

"'Liberale' Gesinnung galt mehr als Gemeinwohl"
Im Gespräch: Der Soziologe Robert Hepp warnte schon vor Jahrzehnten vor den Folgen von Geburtenschwund und Zuwanderung. Er verfiel der Acht, nach Jahren bricht er erstmals sein Schweigen
Moritz Schwarz

Herr Professor Hepp, in letzter Zeit hat ein atemberaubender Wandel in der Debatte um Zuwanderung und Integration, "multikulturelle Gesellschaft" und die demographische Katastrophe stattgefunden. Die meisten Debattenteilnehmer aus Politik, Öffentlichkeit und Medien erwecken allerdings den Eindruck, als hätte man nicht ahnen können, welche Folgen die über Jahrzehnte verfolgten gesellschaftlichen und politischen Konzepte einmal haben würden. Man tut so, als hätte es Warner wie Sie nicht gegeben.

Hepp: Es ist in der Tat erstaunlich, plötzlich sprechen alle von diesen Problemen. Man hat fast den Ein­­druck, es gebe nichts, was unsere Lands­leute mehr be­küm­mert. Beispiel Geburtenrückgang: Nach einer Um­fra­ge des Bundes­instituts für Be­völ­ker­ungs­­­­for­schung mit dem Titel "Population Policy Acceptance Study" sind 84 Prozent der Deut­schen vom Rück­­­­gang der Ge­burten­zahlen alles andere als entzückt.

Ausgerechnet Sie sagen heute: "Das ist doch kein Thema mehr!"

Hepp: Daß heute alle Welt davon redet, wäre für mich schon Grund genug, nicht mehr davon zu sprechen Ich überlasse es gern an­de­ren, Eulen nach Athen zu tragen, zumal in der Dämmerung, wenn die Eule der Minerva ihren Flug beginnt. Dann ist es bekanntlich zum Handeln immer schon zu spät.

Ist der Geburtenrückgang etwa zu spät erkannt worden?

Hepp: Heute hört man in der Tat oft, der Geburtenrückgang sei leider zu spät bemerkt worden. In Wirklichkeit wurde er durchaus rechtzeitig bemerkt, man hat daraus nur keine Konsequenzen gezogen. Als sich der demographische Niedergang der Bundesrepublik abzuzeichnen begann - seit 1971 wurde bei der deutschen Be­völkerung ein Geburtendefizit registriert, und seit 1975 lag ihre Geburtenziffer mit weniger als 1,4 Geburten pro Frau durchweg um ein Drittel unter dem erforderlichen Reproduktionsniveau von durch­schnittlich 2,1 Geburten -, erschien eine ganze Reihe von Schriften, die vor den fatalen sozialen Folgen des Geburten­rückgangs warnten. Etliche schockierten die Öffentlichkeit damals schon mit Titeln, die mit der rhetorisch gemeinten Frage aufwarteten, ob die Deutschen zum Aus­sterben verurteilt seien. Der Ge­burten­rückgang wurde schließlich sogar zum Aus­löser einer Wiederbelebung der Be­völkerungs­wissenschaft in Deutsch­­land, die nach 1945 einer blindwütigen Ent-nazifi­zierung zum Opfer gefallen war.

"Der Regierung ging es darum, die Situation zu bagatellisieren"

Bitte? Sie haben die Tabuisierung einer Bevölkerungspolitik in den siebziger und achtziger Jahren doch immer wieder beklagt!

Hepp: Schon im Februar 1973 wurde zum Beispiel auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissen­schaft, die dem Thema mehrere ihrer Jahres­tagungen widmete, vom FDP-Innen­minister Werner Mai­hofer unter ausdrücklicher Be­rufung auf die Not­wendigkeit der Erforschung von Ursachen und Folgen des Geburtenrückgangs ein Bundes­institut für Be­völkerungs­forschung eingerichtet, das die Regierung beraten sollte. Und seit Anfang 1975 gab dieses Institut auch eine eigene Zeitschrift für Be­völkerungs­­wissenschaft heraus, in der das Thema einen breiten Raum einnahm. In der Ansprache zur Eröffnung des Bundes­in­stituts sagte sein Direktor, die Tatsache, daß die Bundesrepublik die niedrigste Geburten­ziffer ihrer Geschichte und wohl auch die niedrigste der Welt aufweise, habe in der Öffentlichkeit eine breite Diskussion ausgelöst. Er meinte jedoch, unter Hinweis auf die Schreckens­rufe aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahr­hunderts, in denen uns ver­meintlich schon einmal ein Volkstod gedroht habe, unbe­dingt vor "überhöhten Äußer­ungen" und "wilden Speku­lationen" warnen zu müssen. Das ist für die Behandlung des Themas in diesen Jahren bezeichnend! Und tatsächlich war dem Institut von der Regierung offenbar vor allem die Funktion zugedacht, die Öffentlichkeit zu beruhigen und die Situation zu baga­tellisieren. Tatsächlich antwortete die sozialliberale Re­gierung in den Jahren 1975 und 1977 auf wiederholte An­fragen der Opposition, sie sei nicht der Meinung, daß die deutsche Be­völkerungsent­wicklung einen Anlaß zu größten Besorgnissen gebe. In ihrer Antwort auf eine Umfrage der Vereinten Nationen räumte sie im Jahr 1976 zwar ein, daß die Wachstumsrate der deutschen Be­völkerung und ihr Fruchtbarkeitsniveau "nicht zufrieden­stellend" seien, verneinte aber gleichzeitig die Frage, ob sie eine "formulierte Politik" mit dem Ziel habe, "die Auswirkungen der Fruchtbarkeit auf die Wachs­tumsrate der Bevölkerung zu beeinflussen".

Was war der Grund, daß unsere Regierungen sich so beharrlich weigerten, etwas zu unternehmen?

Hepp: Die Hauptgründe waren rein ideologischer Natur, in erster Linie eine vage "liberale" Gesinnung, die man für demokratisch hielt. Der Staat, hieß es allge­mein, dürfe nicht "in die Schlaf­zimmer hinein­regieren"; das "generative Ver­halten" der Bürger sei ihre höchst private Angelegen­heit. Der damalige Leiter der Planungsabteilung des Bundes­kanzleramtes unter Helmut Schmidt, ein gewisser Albrecht Müller, für den "'Bestandserhaltung' ein Begriff aus der Viehhaltungs­statistik" war, pflegte den Befürwortern bevölkerungs­politischer Maßnahmen vorzuwerfen, sie seien noch in "völkisch-kollektivistischen Vorstellungen" befangen. Für diese Leute gab es in der Tat kein Gemeinwohl und kein nationales Interesse, sie meinten, die Politik habe nur für die maximale Entfaltungsfreiheit der Bürger zu sorgen. In der zitierten Antwort auf die Uno-Umfrage begründete die sozialliberale Regierung ihre bevölkerungspolitische Zurückhaltung damit, daß das niedrige Frucht­barkeits­niveau gegenwärtig im allge­meinen zum Wohl der Familie beitrage, indem es das Erreichen der gewünschten Kinder­zahl ermögliche und "partnerschaftliche Ehe-struk­turen" sowie "die Wahr­nehmung eigenen Lebenschancen der Frau" begünstige. Die Regierung spielte damit auf ihre Reform des Ehe- und Familienrechts und auf die Reform des Paragraphen 218 an. Da damit die Hauptursachen des deutschen Geburtenrückgangs benannt sind, kann man sagen, daß die deutsche Regierung den Geburtenrückgang aus ideologischen Gründen begrüßte. Und da es in dieser Zeit noch möglich gewesen wäre, den Geburtenrückgang "rückgängig" zu machen, mache ich die sozialliberale Ideo­logie hauptsächlich für das Desaster verantwortlich. Ich erinnere an meine Kritik, die ich mit der Formel vom "sozialen Aufstieg in die nationale Dekadenz" zusammenfaßte.

"Die heutige Elterngeneration könnte ein Drittel stärker sein"

Sie haben zum Beispiel 1982 kritisiert, daß in der Regierungserklärung Helmut Kohls kein Hinweis auf eine Bevölkerungspolitik zu finden war. Was hätte man damals tun können, um die Katastrophe abzuwenden?

Hepp: Unter denen, die sich an den Diskussionen über Maßnahmen zur Bekämpfung des Geburtenrückgangs beteiligen, war ich einer der wenigen - es dürften nicht viel mehr als eine Handvoll gewesen sein -, die für eine "pro­nata­listi­sche" Be­völke­rungs­­politik ein­traten. Damit ist eine Politik gemeint, die eine Veränderung des genera­tiven Verhaltens der Deutschen, eine Anhebung ihrer Frucht­barkeit auf das zur Selbster­haltung erforderliche Niveau, bewirken sollte. Wenn dies damals gelungen wäre, wäre die heutige Elterngeneration um ein gutes Drittel stärker, und es würde auf absehbare Zeit keine ernstlichen Rentenversicherungs-, Krankenver­sicherungs- und Pflege­ver­sicherungspro­bleme geben. Wir hätten auch weitgehend auf die teure Einfuhr und Integration von Ausländern verzichten können.

Mußten Sie nicht fürchten, daß eine pronatalistische Politik durch die Bevölkerungspolitik des Dritten Reiches, die ja auch nicht besonders erfolgreich war, als diskreditiert gelten würde?

Hepp: Die bloße Tatsache, daß Adolf Hitler etwas für richtig hielt, war für mich noch nie ein Grund, es unbesehen für falsch zu halten. Im übrigen will ich hier nicht erörtern, ob die Legende von der Wirkungslosigkeit der natio­nal­sozia­listi-schen Be­völkerungspolitik einer un­be­fangenen Untersuchung standhalten würde. Ich halte sie für falsch. Im Unterschied zu dem demographischen Star­berater der sozial­liberalen Bundes­regierungen jener Jahre, einem gewissen Dr. Hermann Schubnell, der seinen Doktortitel im "Tausend­jährigen Reich" mit einer linientreuen pro­nata­listischen Arbeit er­worben hatte und daher in der Bundesrepublik von einer solchen Bevöl­kerungs­politik nur abraten konnte, weil er sonst schnell als "Altnazi" dekuvriert und als Re­gierungs­berater abserviert worden wäre, hatte ich als Nachkriegsdeutscher gegenüber einer solchen Be­völkerungs­­­politik zwar keine Berührungsängste, aus meiner Sicht mußten die Mittel, die im Deutschen Reich der dreißiger Jahre noch mit Erfolg eingesetzt werden konnten, vierzig Jahre später in der ganz anderen sozialen Konstellation der Bundesrepublik allerdings weitgehend versagen.

"Ohne Abtreibungen kein Geburtendefizit"

Gab es für Sie andere erfolgreiche Modelle?

Hepp: Ich wies vor allem auf das Beispiel der erfolgreichen Bevölkerungs­politik Frankreichs hin, dessen Geburten­ziffern nur wenig unter dem Reproduktionsniveau lagen. Ich hatte meine demo­graphischen Kennt­nisse während eines Studiums in Frank­reich erworben. Da flo­rierte die Demo­graphie als Hilfs­wissenschaft einer Politik, die das Land aus dem demo­graphischen Nieder­gang herausgeführt hatte, der mit wiederholten Geburten­defiziten bereits ge­gen Ende des 19. Jahrhunderts begon­nen hatte und dem man die militärische Nieder­­lage im Zweiten Weltkrieg zu­schrieb. Da es den Franzosen tat­säch­lich mit einem Bündel pro­natalistischer Maß­nahmen ge­lun­gen war, eine Wende in ihrer Bevölkerungs­entwicklung herbeizu­führen, die zu Beginn des Jahr­hunderts niemand für möglich gehalten hätte, gab ich mich eine Zeit lang der Hoffnung hin, daß vielleicht auch in Deutschland noch ein solcher Umschwung zu schaffen sei, wenn man dafür nur tüchtig die Werbetrommel rührte.

Sie begannen damals für diese Sache "durch die Lande zu ziehen" und malten, wie Sie einmal gesagt haben, "die drohende Be­völkerungs­schrumpfung und Überalterung anhand statistischer Modellrechnun­gen im Stil eines alt­testamentarischen Unheils­­pro­pheten an die Wand".

Hepp: Ich habe versucht, die Leute davon zu über­zeugen, daß es nur ein aussichts­reiches Rezept gäbe: die An­hebung der Frucht­barkeit auf 2,1 Geburten pro Frau. Ich wollte zu diesem Zweck auch eine Verschärfung des Paragraphen 218 - natürlich in Abstimmung mit den benachbarten europäischen Staaten - nicht ausschließen, falls die ande­ren in Frank­reich mit Erfolg angewandten pronata­listi­schen Maß­nahmen, besondere Prämien für dritte und weite­re Kinder, Steuertarife nach Kinderzahl etc., in Deutsch­­­land nicht greifen sollten. Irland mit seinem rigo­rosen Abtreibungs­verbot war schließlich schon in den acht­ziger Jahren das einzige Land der EG mit Geburten­ziffern, die sich noch sehen lassen konnten. Und wenn man bei uns die Abtreibungen und die Geburten addierte, gab es auch in Deutschland statistisch kein Geburten­defizit mehr.

Statt zu mehr Geburten kam es aber zu mehr Einwanderung.

Hepp: Rein statistisch betrachtet konnten die Lücken, die der Geburtenrückgang hinterließ, ebensogut durch die Anlockung Fremder geschlossen werden wie durch den "natürlichen" Zuwachs eigener Geburten. Und da sich die Bundesregierung für diese Alterna­tive ent­schieden hatte, mußte ich mich notgedrungen auch mit ihrer "Wanderungspolitik" ausein­ander­setzen. Im End­effekt spitzte sich also meine Argumentation auf die Demonstration der Überlegenheit einer pronata­listischen Bevölkerungspolitik über die Wanderungs­politik zu.

"Es hagelte faule Eier und Tomaten"

Was Sie allerdings erst recht in Verruf gebracht hat.

Hepp: Über die Reaktion des linksliberalen Establishments brauche ich mich wohl nicht auszulassen. Im akademischen Raum blies mir von Anfang an ein scharfer Gegen­­wind ins Gesicht. Das Konzil der Uni­versität Osnabrück etwa war nur durch einen Gerichtsbeschluß daran zu hindern, meine "frauen- und ausländerfeind­lichen Irrlehren" anzuprangern. Einzelne Kollegen veran­stalteten Kollo­quien und Pres­se­konferenzen, in denen sie sich von mir distanzierten. Mein Dienst­herr meinte mich zur Verfas­sungs­treue er­mah­nen zu müssen und ließ mich per Zeitung wissen, daß er meine Aktivitäten "auf das genaueste" ob­serviere. Wenn ich zu Gastvor­lesungen an anderen Uni­ver­si­täten einge­laden war, wurde ich gewöhnlich von einem Pulk von Cha­­oten in Empfang genommen und mit Ge­walt am Vor­trag gehindert. Da hagelte es faule Eier und To­ma­ten. Das war zwar recht lustig, aber effektiv war es nicht.

Wie war das Echo auf der anderen Seite des politischen Spektrums?

Hepp: Das Ziel einer Änderung des genera­tiven Verhaltens wur­de allen­falls von einigen alten Kon­serva­tiven, die sich selber nicht mehr davon betroffen fühlten, mit Beifall aufge­nommen. Die elitäre Rechte hat sich allerdings über den "Gebär­predi­ger" Hepp eher lustig gemacht. Die Verächter der Masse brachten unverhohlen ihre Freude darüber zum Ausdruck, daß nach Jahrhunder­ten eines hemmungslosen prole­tarischen Bevölke­rungs­wachs­tums endlich die Zeit des "Ge­sund­­­schrumpfens" ange­brochen sei. Auch die Be­funde des Etho­logen Paul Leyhausen - über das mit steigender Be­völke­rungsdichte zunehmende asoziale Verhalten wil­der Tiere - wurden mir in diesen Kreisen oft unter die Nase gerieben. Und schließlich spielten dort auch ökolo­gische Argumente eine große Rolle. Das Null­wachs­­tum war nicht nur die Lieb­lingsidee der Linken. Im Bür­ger­tum war die vor­herrschende Grund­stimmung ohne­hin malthusia­nisch. Es mag sein, daß ich mich irrte, aber ich hatte bei den Diskussionen über meine Vorschläge immer den Ein­druck, daß ich es mit einer Gesell­schaft zu tun hatte, die sich zur Ruhe begeben wollte. Daß sich das Land vor der Alterna­tive "wach­sen oder altern" - und etwas anderes gibt es für eine Bevölkerung nicht - letztlich für das Altern ent­schieden hat, war meines Erach­tens in der morosen Mentali­tät dieser Jahre schon vor­ge­zeichnet. Von einer Revitali­sierung der Deut­schen, wie sie mir vorschwebte, konnte unter diesen Umständen nicht mehr die Rede sein.

Dennoch beunruhigten einige Menschen immerhin Ihre Prognosen zur Einwanderung.

Hepp: Wirklich angekommen bin ich beim Publikum nur mit meinen Argumenten gegen die Wanderungs­politik, die ich ur­­­sprünglich lediglich als Kontrast­mittel zur Unter­stützung meiner Haupt­forderung in mein Repertoire auf­ge­­­­nom­­­men hatte. Das Thema machte sich aber selb­ständig. Wenn ich zu Diskussionen im Fern­sehen einge­laden wurde, bei denen es um Probleme der deutschen Bevöl­kerungs­ent­wicklung gehen sollte, wurde unter der still­schweigend von allen akzeptierten Prämisse, daß gegen den Geburtenrückgang nichts mehr zu machen sei, immer nur über die mit der Wanderungspolitik zusam­menhängenden Ausländer­probleme und über die "Aus­länder­feind­lich­­keit" der Deutschen diskutiert.

"In einer NDR-Sendung platzte mir der Kragen"

Immerhin wurden Sie in den achtziger Jahren recht häufig ins Fernsehen eingeladen.

Hepp: Ja, ich diente dort aber nur als Anheizer, der die übri­gen Teilnehmer - lauter handverlesene Gut­men­schen, unter denen der Streitgegenstand im Grunde un­strittig war - in Rage versetzen sollte, damit sie keine gar zu lang­­weilige Show ablieferten. Ich habe die Posse lange mit­gespielt. Als mir schließlich bei einer Runde im NDR der Kragen platzte, haben alle Sendean­stalten wie auf Kom­mando auf weitere Gastspiele ver­zichtet. Ich war darüber nicht un­glück­lich, denn das immer gleiche Stück hatte allmäh­lich, wie der Berliner sagt, "einen Bart mit Dauerwellen". Und der politische Effekt war gleich Null.

Warum aber sagen Sie heute, der Geburtenrückgang sei für Sie kein Thema mehr? Vielleicht könnten Sie mit neuen Vorschlägen nun eine bessere Wirkung erzielen?

Hepp: Sie meinen, ich sollte ebenfalls kostenlose Kinderkrippenplätze und steuerfreie Tagesmütter für die Einzelkinder aka­demischer Doppelverdiener fordern?

Damals warben Sie dafür, daß der Staat potentielle Eltern mit materiellen Anreizen zum Kinder­kriegen animiert. Die Wirkung dieser Anreize ist allerdings von der Bedürfnisstruktur und dem Leben­s­standard der Adressaten abhängig. Könnte es also nicht durchaus gelingen, mit Hilfe unentgeltlicher Kinderkrippen und steuer­lich absetzbarer Tagesmütter kinder­lose Akademikerinnen auf andere Gedanken zu bringen?

Hepp: In den siebziger und achtziger Jahren war die Verein­barkeit von Familie und Beruf noch kein aktuelles Pro­blem. Diese Frage ist überhaupt erst mit der späteren Haus­­haltsrevolution virulent geworden, die durch die Kumulation mehrerer Einkommen in einem Haushalt völlig neue Aufstiegschancen und Abstiegsrisiken eröffnete. Ich bezweifle im übrigen auch, daß die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf heute der Königsweg zu einer höheren Ferti­lität ist. Die Makrostatistik spricht jedenfalls nicht unbe­dingt dafür. In Schweden, das immer noch als Pa­rade­beispiel gilt, weil die Ge­burtenziffer dort im Jahr 1990 trotz einer hohen Frauen­erwerbsquote - über 80 Prozent der 25- bis 50jährigen - bei 2,14 Kindern ange­­kom­­men war, ist die Ziffer inzwischen auf 1,5 herun­ter­­ge­gangen. Frankreich hat bei einer vergleich­baren Be­treuungs­infra­struktur eine niedrigere Frauener­werbs­quote und trotzdem eine höhere Fertilität. Oder, um im Lande zu bleiben: Brandenburg kann mit einem deut­lich besseren Krippen­angebot aufwarten als Bayern, aber in Bayern liegt die Geburtenziffer trotzdem noch um einiges höher. Ich will nicht ausschließen, daß das Mo­dell unter be­stimmten Umständen funktionieren könnte. In Is­land beispiels­weise mit einer - anno 2000 - Frau­en­er­werbs­­quote von 80 Prozent und stolzen 2,08 Kindern pro Frau (im Jahr 2003 noch 1,99) scheint es zu funktio­nieren. Die Zusammen­hänge sind aber jedenfalls kom­plexer, als Lies­chen Müller - oder Ursula von der Leyen - meint.

"Kinder, die nicht geboren werden, fehlen als Eltern"

Diese Zusammenhänge könnten Sie ja berücksichtigen und so eine überzeugende Alternative zu Konzepten à la von der Leyen ins Spiel bringen.

Hepp: Als ich mich noch für eine geburtenfördernde Politik stark machte, lag der durchschnittliche Kinderwunsch noch über dem Reproduktionsniveau und weit über den realisierten Geburten. Und die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit war aus sozialer Per­spektive die beste Rechtfertigung einer pronatalistischen Bevölkerungspolitik, die die Barrieren zu beseitigen versprach, die der Verwirklichung des Kinder­wunsches der Bürger entgegenstanden. Heute liegt der durchschnittliche Kinderwunsch der 18- bis 39jährigen Deutschen nach einer Eurobaro­meter-Umfrage von 1999/2000 weit unter dem Repro­duktions­niveau, ziemlich dicht bei der tatsächlich realisierten Zahl der Geburten. Bei den deutschen Frauen im Alter von 18 bis 39 Jahren ist der durchschnittliche Kinderwunsch mit 1,52 einer der niedrigsten in Europa! Und auch bei den deutschen Männern unter 35 Jahren ist er mit 1,31 der mit Abstand niedrigste. Unter solchen Umständen dürfte jede noch so gut gemeinte "Familienpolitik" zum Scheitern verurteilt sein.

Es wäre ja immerhin denkbar, daß das Kinderwunsch einmal wieder auf ein höheres Niveau ansteigt.

Hepp: Das ist natürlich nicht völlig auszuschließen, aber bisher ist immer behauptet worden, daß eine pro­natalistische Bevölkerungspolitik den Kinderwunsch an sich kaum beeinflussen könne, sondern allenfalls dessen Erfüllbarkeit beziehungsweise den Zeitpunkt seiner Realisierung. Zur Zeit wird in der Fachliteratur schon diskutiert, ob der niedrige Kinderwunsch der Deutschen eine neue Etappe des Geburtenrückgangs ankündige.

Fazit: Es ist für jede Beeinflussung des generativen Verhaltens durch materielle Anreize definitiv zu spät?

Hepp: Es gibt noch andere Grunde, die dafür sprechen, daß der Geburtenrückgang nicht mehr "rückgängig" zu machen ist, ja daß es nicht einmal mehr zu wünschen wäre, ihn "rückgängig" zu machen. Bei einer Geburten­ziffer, die seit nunmehr über dreißig Jahren unter 1,4 Geburten pro Frau liegt, sind alle Kohorten der heute unter Dreißigjährigen - gemes­sen an den durch­schnittlich 2,1 Ge­burten -, die zur Re­produktion der Eltern­gene­ration erforderlich wären, bereits um ein gutes Drittel zu gering ausgefallen. Da die Kinder, die in den siebziger und achtziger Jahren nicht ge­boren wurden, heute als Eltern fehlen, könnte auch ein künftiger Anstieg der Fruchtbarkeit auf das Repro­duktions­niveau - mit dem im Ernst niemand rechnet - die fatalen Folgen des demo­graphischen Regimes der letzten Jahrzehnte nicht verhindern. Nach den Modellrechnungen des Statisti­schen Bundesamtes wäre auch unter dieser Voraus­setzung in Deutsch­land - selbst bei einer jährlichen Nettoein­wanderung von 150.000 Ausländern - bis zur Jahr­hun­dert­mitte noch ein Geburtendefizit und damit eine ständige Abnahme der Bevölkerung zu ver­zeich­­nen.

Wobei der Begriff "Bevölkerungsabnahme" nur die eine Hälfte des Problems beschreibt. Damit einher geht schließlich automatisch eine "Überalterung".

Hepp: Ja, und die ließe sich selbst bei einem sofortigen Anstieg der Fruchtbarkeit auf das Reproduktions­niveau nicht mehr verhindern. Es handelt sich dabei um eine unvermeidliche Konsequenz der unzureichen­den Frucht­barkeit der letzten drei Jahrzehnte. Nach der zitierten Modellrechnung des Statistischen Bundesamtes wird der sogenannte Altenquotient, der das Verhältnis der über 60jährigen zu den 20- bis 60jährigen angibt, bei der deutschen Be­völkerung - wenn man von weiteren Einwanderun­gen absieht - bis zum Jahr 2050 von heute 43 Prozent auf 83 Prozent steigen. Bei einer geringen Steigerung der Lebens­erwartung könnte er sich sogar auf 100 Prozent erhöhen, so daß also auf jeden potentiellen Erwerbstätigen ein potentieller Rentner käme! Ich brauche nicht aus­zumalen, was das für die Renten- und Kranken­ver­sicherungen bedeutet.

Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg hat ausgerechnet, daß die Frucht­barkeits­rate auf den extremen Wert von 3,8 Kindern pro Frau steigen müß­te, um die Zunahme des Altenquotienten zu verhindern.

Hepp: Und das wäre eine Reproduktionsrate so hoch wie in Nicaragua und Paraguay! Hinzu kommt, daß bei einem Fruchtbarkeitsanstieg der Jugend­quo­ti­ent, der das Verhältnis der unter 20jährigen zu den 20- bis 60jährigen angibt und der nach der zitierten Modellrechnung bei gleichbleibend niedriger Fruchtbarkeit bis zum Jahr 2050 von 38 Prozent auf 33 Prozent fallen würde, bei einer Erhöhung der Fruchtbarkeit ebenfalls ansteigen würde. Somit würde auf den "Tragkörper" der "mittleren Generation", der durch den vorangegangenen Geburteneinbruch ge­schwächt ist, nicht nur eine höhere Belastung durch Alte, sondern gleich­zeitig auch noch eine steigende Belastung durch Kinder und Jugendliche zukommen. Es ist unvorstellbar, daß er dieser Doppelbelastung standhalten würde.

Es ist also wirklich und wahrhaftig zu spät!

Hepp: Hier zeigt sich ein fatales Phänomen, das man in der Demographie als das "Gesetz der Trägheit" bezeichnet. Die Zahl der Geburten hängt eben nicht nur von der Fruchtbarkeit der Eltern ab, sondern auch von der Zahl der Personen, die jeweils als Eltern in Betracht kommen. Selbst ein Anstieg der Geburtenziffer auf die ideale Zahl von zwei Kindern je Frau könnte daher nicht verhindern, daß die Bevölkerung noch jahrzehntelang abnimmt und immer älter wird. Man kann eben auf diesem Feld eine politische Fehlent­scheidung nicht einfach revidieren. Hier gilt wirklich, was für die sogenannte "Vergangenheits­be­wältigung" nicht unbedingt geltenmüßte, daß der Herr "der Väter Missetaten heimsucht an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied", wie es in der Bibel heißt.

"Rentenalter mit 77 und 458.000 Ausländer jährlich"

Das klingt nun aber gar nicht österlich. Was bleibt uns denn dann noch zu tun? Sie werden uns doch nun nicht auch noch das Sauerbier der "Bestanderhaltungsmigration" als die einzig mögliche Lösung der Probleme einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung anbieten wollen?

Hepp: Sie spielen auf die verrückte Uno-Studie an, die keine andere Möglichkeit sieht, in Deutschland auf lange Sicht die Anhebung des Rentenalters auf 77 Jahre und den Rückgang der Bevölkerung zu vermeiden, als die Aufnahme von jährlich 458.000 Ausländern, womit der Ausländeranteil bis 2050 auf 36 Prozent ansteigen würde. Es tut mir leid, aber wir haben tatsächlich nur noch die Wahl zwischen der Pest, der Cholera und dem Typhus! Meinhard Miegel und Stephanie Wahl haben das bevölkerungspolitische Trilemma, vor dem wir stehen, schon vor dreizehn Jahren in einem Buch mit dem schönen Titel "Das Ende des Individualismus - Die Kultur des Westens zerstört sich selbst" schonungslos dargelegt.

"Die Deutschen wollen alles zugleich - das geht nicht"

Danach haben wir grundsätzlich nur noch drei Optionen ...

Hepp: ... die alle mit Nachteilen verbunden sind. Erstens: Wenn wir die Bevölkerungszahl Deutschlands bis 2050 bei 80 Millionen konstant halten wollen, müssen wir den Anteil der Eingewanderten von 10 Prozent auf etwa 30 Prozent und den Anteil der über 60jährigen von 20 Prozent auf ebenfalls etwa 30 Prozent anheben. Zweitens: Wenn wir den Ausländeranteil bei 10 Prozent konstant halten wollen, müssen wir bereit sein, eine Abnahme der Bevölkerungsgröße um 25 Prozent und eine Verdoppelung der über 60jährigen von 20 Prozent auf 40 Prozent hinzunehmen. Drittens: Wenn wir den Anteil der über 60jährigen bei 20 Prozent konstant halten wollen, müssen wir uns auf den Anstieg des Ausländeranteils von 10 Prozent auf etwa 50 Prozent und eine Zunahme der Bevölkerungsgröße auf über 100 Millionen akzeptieren.

Zu welcher Option raten Sie?

Hepp: Das ist nicht die Frage, sondern, für welche werden sich die Deutschen entscheiden? Das Dumme dabei ist, daß die Mehrheit der Deutschen alle drei Größen konstant halten möchte. Nach den Ergeb­nissen der "Population Policy Acceptance Study" des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung finden 84 Prozent den Rückgang des Anteils der Jungen, also die Über­alterung, schlecht; 82 Prozent sind für eine Begrenzung des Ausländerzuzugs. Und nach einer von Miegel und Wahl zitierten Umfrage aus dem Jahr 1989 war die Mehrheit der Befragten sowohl gegen eine Zunahme als auch gegen eine Abnahme der Bevölkerung. Alles zugleich geht aber nicht. Man kann nicht den Kuchen essen und das Ei behalten.

Also bitte: Ihre Lösung! Ihren Ratschlag! Ihre Empfehlung!

Hepp: Es wird langsam Zeit, daß wir uns von luftigen Illusionen verabschieden. Politik ist nach Bismarck die Fähigkeit, in jedem wechselnden Moment der Situation das am wenigsten Schädliche zu wählen. Wenn Sie's unbedingt wissen wollen: Ich bin für die Cholera.

 

Prof. Dr. Robert Hepp gilt seit Mitte der siebziger Jahre als der eindringlichste Warner vor demographischer Katastrophe und den Folgen der Einwanderung. Nachdem er zunächst eine erhebliche Medienresonanz erlebte, fiel er zunehmend der aufkommenden Political Correct-ness zum Opfer. In zahlreichen Veröffentlichungen prognostizierte Hepp die schon damals absehbaren Folgen einer verweigerten Bevölkerungs- und statt dessen betriebenen Einwanderungspolitik. Am bekanntesten wurde sein Buch mit dem provozierenden Titel: "Die Endlösung der deutschen Frage. Grundlinien einer politischen Demographie in der Bundesrepublik Deutschland" (Hohenrain, 1988). Bis Ende 1994 lehrte er als Professor für Soziologie an der Universität Osnabrück, dann bis zu seiner Emeritierung am 1. April dieses Jahres an der Hochschule Vechta. Geboren wurde er 1938 in Oberschwaben bei Riedlingen an der Donau.

Foto: Robert Hepp: "Distanzierungen, Proteste, Drohungen, Zweifel an meiner Verfassungstreue und Angriffe von Chaoten"

Foto: Graffiti (in Solingen) "Die Türken integrieren. Die Deutschen eliminieren": "Wir haben nur noch die Wahl zwischen Pest, Cholera und Typhus"

 

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