© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/06 21. April 2006

Fluch der bösen Tat
Warum die Vertuschung des Skandals um die Enteignungen unsere staatspolitische Kultur zerstört
Thorsten Hinz

Die zwischen 1945 und 1949 vollzogene Enteignung des Grundbesitzes in der SBZ/DDR wird von allen politischen Parteien als unumkehrbar proklamiert. Höchstrichterliche Urteile haben diese Auffassung bestätigt. Um so schlimmer für den Rechtsstaat, denn es handelt sich um die Legalisierung eines Rechtsbruchs und um eine Verluderung der Sitten und Institutionen, die alle betrifft.

Am Anfang stand die Hoffnung der Bundesregierung, durch den Verkauf der Ländereien die deutsche Einheit zu finanzieren. Schnell war klar, daß davon keine Rede sein konnte, daß die brachliegenden und kontaminierten Flächen sogar Kosten verursachten. Weshalb trotzdem keine Umkehr? Wenn man Gerichtsurteile, Debattenbeiträge, Kommentare, Leserbriefe usw. dazu liest, ergibt sich eine merkwürdige Melange aus Juristendeutsch, moralisierendem historischen Traktat und marxistischer Klassenkampfrhetorik, hinter der eine zweite, gesellschaftspolitische Absicht sichtbar wird: Es sollte - unbeschadet der Tatsache, daß die überwiegende Mehrheit der Enteigneten Bürgerliche, wenn nicht sogar Mittelständler waren - die Renaissance der sogenannten preußischen Junker verhindert werden, "vielleicht die einzige, sicher die stärkste herrschaftsfähige und staatsbildende Kraft, die Deutschland in der Neuzeit hervorgebracht hat" und die einst "Geschlossenheit, Stil, Herrschaftswillen, Durchschlagskraft, Selbstsicherheit, Selbstdisziplin, Moral" verkörperte (Sebastian Haffner).

Es galt, diesem Herkunftsstolz die räumliche und ökonomische Wiederverankerung zu verweigern, hätte sie doch einen potentiellen Nukleus der Unabhängigkeit gegenüber dem unersättlichen Staat bilden können. In dieser aus egalitärer Überzeugung gespeisten Abneigung stimmten die "arbeiterlich" (Wolfgang Engler) geprägte DDR und die kleinbürgerliche Bundesrepublik überein.

Diese Übereinstimmung erscheint im Rückblick bedeutsamer als die deutsch-deutschen Empfindlichkeiten, die man ebenfalls nicht unterschätzen darf. Die Festschreibung der Enteignungen hatte für viele Ex-DDR-Bürger einen politischen Symbolwert. Der Konflikt wurde auch innerhalb dieser Zeitung ausgetragen. Während einer stürmischen Redaktionssitzung 1998 ist als Argument für den Beibehalt der Enteignungen vorgebracht worden, Deutschland sei nach dem Krieg um ein Viertel verkleinert, Millionen Ost- und Volksdeutsche seien enteignet, vertrieben, die Verhältnisse neu durchmischt worden. Diese Nachkriegssituation bilde die neue Grundtatsache, die alten Besitzverhältnisse seien nur noch Fiktion. Dagegen ließe sich eine Menge einwenden, zumindest aber, daß zur Herstellung nationaler Lastengerechtigkeit ein Lastenausgleich oder eine ausgewogene Reform besser geeignet sind als ein kollektiver, allumfassender Raub.

Auch der Rechtsstaat kennt Enteignungen zugunsten des Gemeinwohls. Es kann weiterhin Situationen geben, etwa nach Kriegen oder inneren Umwälzungen, in denen der Staat, wenn gewöhnliche Rechtsmittel versagen, zu außergewöhnlichen Rechtsmitteln greifen muß, um einem Recht im höheren Sinne, einer höheren Gerechtigkeit, zum Sieg zu verhelfen. Doch worin sollte die hier bestehen? Die Kleinpächter bzw. ihre Nachkommen, in deren Interesse die Enteignungen offiziell vorgenommen worden waren - ehemalige Kleinbauern, Tagelöhner, Ostvertriebene -, sind nach 1990 weitgehend leer ausgegangen. LPG-Barone und Glücksritter aus dem Westen teilten sich den Besitz und kassieren aus Brüssel Prämien für Flächenstillegungen. Auf dem flachen Land in Mecklenburg, Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt herrscht flächendeckend Trostlosigkeit, die Dörfer sterben, Abwanderung, Alkoholismus, Hartz-IV-Abhängigkeit stehen auf der Tagesordnung. Wo bleibt da die Würde? Wo die Gerechtigkeit?

Es hätte Führungspersönlichkeiten gebraucht, die keinen schnellen Gewinn realisieren wollten, sondern die am Gedeihen, an der Neukultivierung und -strukturierung dieser ländlichen Räume interessiert waren, weil ihr Herz an ihnen hängt. Mit einer wenigstens teilweisen Rückübertragung wäre auch keine, wie es oft hieß, "Geschichte rückgängig gemacht" worden, denn die Rückkehrer hätten sehr schnell begriffen, daß sich Erfolg nur mit, nicht gegen die Menschen einstellt, die dort leben.

Die Situation ist juristisch und ökonomisch katastrophal, moralisch verwerflich und politisch gefährlich. Wer heute glaubt, daß dieser Rechtsbruch ihn nichts anginge, könnte sich morgen schon als Opfer einer falschen Staatsräson wiederfinden. Das muß man sich mal vor Augen halten: Eine Bundesregierung - eine vorgeblich bürgerliche, mit einem vorgeblich liberalen Justizminister! - beschließt, unter erlogenen Vorwänden eine bestimmte Schicht außerhalb des Rechts zu stellen und zu enteignen, das Parlament nickt dieses Vorhaben ab, und die höchsten Gerichte geben dazu ihren juristischen Segen!

Dieses Handlungsmodell ist auf weitere, breitere Bevölkerungsschichten anwendbar, und die Zeiten sind danach! Steht doch der Staat ökonomisch, finanziell, demographisch, sozial auf schwankendem Boden. Weil er im historischen Niemandsland wurzelt, verfügt er auch über keine kraftvolle, werbende Staatsidee. Folglich ist das Politische auf eine kannibalistische Sozialpolitik als Sedativ für die Bevölkerung geschrumpft. Die Sozialsysteme aber sind am Ende, parallel dazu nimmt der Umfang der Unterschichten zu, und alles zusammen tangiert die Stabilität des Staates. Die politische Klasse agiert ratlos, zunehmend panisch und kann keinen entscheidenden Kurswechsel vollziehen, ohne sich selber zu delegitimieren und in Frage zu stellen.

Die Gefahr liegt auf der Hand, daß sie die Erosion des Rechtsstaates ausweitet, um die sukzessive Enteignung des Bürgers zu legalisieren und so die Mittel in die Hand zu bekommen, den klapprigen Mechanismus des alten Sozialstaates am Laufen und sich selber oben zu halten. Die Einführung eines "Integrationssoli" ist vermutlich nur noch eine Frage der Zeit.

Der Ausspruch von Sozialpolitikern, es sei genug Geld vorhanden, es müsse nur gerecht verteilt werden, muß als Drohung verstanden werden. Das Bundesverfassungsgericht hat im März seinen "Halbteilungsgrundsatz", wonach dem Bürger maximal die Hälfte des Einkommens weggesteuert werden darf, wieder aufgehoben und der Politik ganz neue Möglichkeiten für Steuererhöhungen, Vermögensabgaben usw. in die Hand gegeben. Jeder darf sich fragen, ob er der nächste ist, schließlich ist der Begriff des "Besserverdienenden" reine Auslegungssache. Wen es betrifft, der muß sich dann sagen lassen, er hätte es wissen können, und zwar schon damals, als es ja nur gegen die Enteigneten ging.


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