© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/06 28. April 2006

Integration
Was ist deutsch?
Dieter Stein

Kürzlich traf ich eine Verwandte. Sie ist Lehrerin an einer Hauptschule in Süddeutschland. An der Schule haben ihrer Aussage nach 60 bis 70 Prozent der Schüler einen "Migrationshintergrund". Wir unterhalten uns über die durch die Berliner Rütli-Schule in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommenen Probleme der Hauptschulen in den städtischen Brennpunkten. Meine Gesprächspartnerin ist nicht nur Lehrerin, sondern auch bei den Grünen engagiert. In ihren Augen spielt der ethnisch-kulturelle Hintergrund praktisch keine Rolle. "Auch mit deutschen Schülern haben wir große Probleme. Es ist primär ein soziales Problem."

Wir diskutieren zwei Stunden lang. Ob es nicht vernünftig und im Interesse der bereits hier lebenden Ausländer wäre, in der Zuwanderungspolitik endlich auf die Bremse zu treten? Und zwar deshalb, damit wenigstens die Integration der bereits hier lebenden Ausländer gelingen könne? "Woher kommt nur immer diese Angst?" fragt sie, und es trifft mich ein milde tadelnder Blick.

Meine Verwandte ist Mitte Dreißig, verfügt zweifellos über eine natürliche Autorität, und ich glaube ihr, daß es ihr gelingt, sich bei den Schülern Achtung zu verschaffen und eine gute Lehrerin zu sein. Ich will nun wissen, wie man sich die Annäherung von Ausländern an das "Deutschsein" an ihrer Schule vorstellen kann. "Was erzählst du im Geschichtsunterricht deinen Schülern, was positiv an Deutschland ist?" frage ich sie. Sie überlegt kurz und sagt: die Freiheit, in der wir leben, die Grundrechte, die unser Grundgesetz den Bürgern gewährt. "Aber", wende ich ein, "demokratische Grundrechte und Freiheit sind doch Kennzeichen aller westlichen Demokratien. Das ist doch nun nicht etwas, was die Schüler spezifisch mit Deutschland verbinden können." Sie sieht mich ratlos an. Und fragt: "Was soll ich denn deiner Meinung nach im Unterricht vorstellen?" Mir war blitzartig klar, daß exakt das das Schlüsselproblem der ganzen Integrationsdebatte ist: Was heißt es eigentlich, Deutscher zu sein?

Es sei zwar richtig, meine ich dann, die Bedeutung der Freiheitsrechte herauszustellen. Dann dürfe man aber nicht so tun, als seien diese Rechte 1949 gleichsam nach Jahrhunderten der Finsternis vom Himmel gefallen. Man müsse auch den spezifisch deutschen Freiheitskampf, der um die Erringung kultureller, nationaler Selbstbestimmung geführt wurde, deutlich machen. Höhen und Tiefen deutscher Nationalgeschichte müßten lebendig an den Schülern vorbeiziehen. Sie müßten gepackt werden von den blutigen Opfern, den Heldentaten vorangegangener Geschlechter, die den Weg deutscher Geschichte und Freiheit begleiteten, sie müßten ergriffen sein von deutscher Literatur und Musik. Doch lernen sie klassische Gedichte, singen sie deutsche Volkslieder?

Ob sie mit den Schülern schon einmal auf einem deutschen Soldatenfriedhof gewesen sei? Natürlich nicht, was für eine Idee! Dabei bin ich mir sicher, daß insbesondere türkische Schüler, in deren Herkunftsland die Armee alles bedeutet, davon berührt wären. Jeder Schüler in der Türkei lernt den Satz aufzusagen: "Ne mutlu türküm diyene! Wie erhaben ist es, zu sagen: Ich bin ein Türke!" - Wir trennen uns ratlos. Deutscher zu sein bedeutet offenbar, das Erhabene zu verleugnen.


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