© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/06 28. April 2006

Die Balkanisierung der Europäischen Union
Historisch bedingt bringt Bulgarien in die EU viele Probleme ein, nicht zuletzt mit seiner türkischen Minderheit
Martin Schmidt

Das Verschweigen oder Schönreden von Problemen ist zu einem wesentlichen Kennzeichen heutiger EU-Politik geworden. Das gilt auch in bezug auf den geplanten Beitritt Bulgariens und Rumäniens im Januar 2007 oder spätenstens ein Jahr später. Zwar werden die großen politischen, wirtschaftlichen und ethnisch-sozialen Probleme dieser Länder in der Öffentlichkeit durchaus zur Sprache gebracht - speziell die in der Südostecke des Kontinents allgegenwärtige Korruption -, doch nicht in der gebotenen Schärfe und nicht mit den absehbaren schwerwiegenden Folgen. Sprich: einschließlich der Aussicht, daß Rumänien ebenso wie Bulgarien weder kurz- noch mittelfristig in die Europäische Union integrierbar sind. Die schon jetzt mit der Integration der ostmitteleuropäischen Staaten am Ende ihrer politisch-finanziellen Möglichkeiten angelangte Staatengemeinschaft halst sich zusätzlich schier unüberwindliche Schwierigkeiten auf, die letztlich ihren Zusammenbruch herbeiführen könnten.

Manche Hypotheken, die Rumänien und Bulgarien in die EU einbringen, sind in ihrem Ausmaß völlig unbekannt oder stehen unter einem ideologisch bedingten Diskussionsverbot. Hier seien insbesondere die nach Millionen zählenden Zigeuner genannt, die auf lange Sicht wohl Rumäniens größtes Problem darstellen, sowie die türkische Volksgruppe in Bulgarien, um die es im folgenden gehen soll.

Schwächerer Druck nach 1990 auf Minderheiten

Bulgariens Verhältnis zum großen türkischen Nachbarn im Südosten ist historisch erheblich belastet, da Bulgarien seit der Unterwerfung 1393 bis zum russisch-türkischen Krieg von 1877/78 über viele Jahrhunderte eine unfreie osmanische Provinz war und erst 1908 die volle Unabhängigkeit erringen konnte. Diese Erfahrung wirkt sich nicht zuletzt auf die Haltung des Staatsvolkes gegenüber den heute fast 900.000 Angehörigen der türkischen Minderheit aus.

Diese war und ist immer wieder Gegenstand innenpolitischen Streites und erklärt nicht unwesentlich den kometenhaften Aufstieg der im letzten Jahr gegründeten gegründeten rechtspopulistischen Partei Ataka, die bei den Parlamentswahlen vom Sommer 2005 fast neun Prozent erringen konnte. Zur Zeit erhitzen die bulgarischen Türken die Gemüter des Balkanlandes, weil die Bürgervereinigung Millet-Thrakien mit Unterschriftensammlungen eine Parlamentsdebatte über zehn Forderungen zur Stellung der türkischen Volksgruppe durchsetzen will. Wie ihr Vorsitzender Mendeles Kungün der Deutschen Welle erklärte, gehe es um die volle Anerkennung der Türken, deren Sprache zur zweiten Amtssprache erhoben werden solle und denen die Machthaber in Sofia eine eigene türkische Staatsuniversität bereitzustellen hätten.

Um eine Parlamentsdebatte zu erreichen, sind mindestens 6.500 Unterschriften nötig, was für Millet-Thrakien kein Problem darstellen dürfte. Und das, obwohl sich die in der von den Sozialisten geführten Drei-Parteien-Regierung vertretene Türken-Partei DPS gegenüber der Programmatik abgrenzt und die gemäßigt bulgarisch-nationalistische Partei VMRO bereits juristische Schritte gegen Kungün forderte, da dessen Initiative "nationalistischen, rassistischen und ethnischen Haß" schüre.

Auf kurze Sicht wird der Bürgerinitiative sicherlich kein Erfolg beschieden sein, abgesehen vom propagandistischen Effekt, auf den man es wohl abgesehen hat. Der Aufstieg von Ataka und die Unterschriftensammlungen der innerhalb der türkischen Minderheit keineswegs isolierten Millet-Thrakien veranschaulichen vor allem die jüngste Zuspitzung der ethnischen Problematik in Bulgarien, die allerdings schon eine lange Vorgeschichte hat.

Im Jahr 1920 lebten in dem Balkanland neben 4,8 Millionen Bulgaren 520.000 Türken. Ihre traditionellen Siedlungsgebiete lagen in den östlichen Landesteilen, im Rodopen-Gebirge und nordöstlich des Balkangebirges. Die Zahl der Türken stieg bis 1944 aufgrund einer hohen Geburtenrate auf fast 800.000 Personen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es dann eine Reihe mehr oder weniger erzwungener Auswanderungswellen der türkischen Minderheit. Allein zwischen 1948 und 1952 siedelten beispielsweise etwa 150.000 von ihnen nach Kleinasien aus.

Bis Ende der sechziger Jahre läßt sich eine deutliche Entspannung verzeichnen: Türkische Schulen entstanden, Zeitungen und Theater wurden ausgebaut oder sogar neu gegründet. Im Gefolge eines Umsiedlungsabkommens mit Ankara 1968 verließen jedoch innerhalb des nächsten Jahrzehnts nochmals etwa 80.000 Türken das Land. Obwohl in der Verfassung von 1971 die Minderheiten plötzlich keine Erwähnung mehr fanden, wurde die kommunistische bulgarische Regierung offenbar zusehends nervös angesichts der trotz Massenauswanderung stetig wachsenden Zahl von Türken. Deren Geburtenrate lag landesweit mit Abstand an der Spitze und kontrastierte die Entwicklung der Titularnation zu Ein-Kind-Familien. Die überwiegend in ländlichen Gegenden kompakt siedelnden Türken mit ihrer anderen Religion hatten sich kulturell und sprachlich als nicht assimilierbar erwiesen.

Damals wurde klar, daß sich auch die "internationalistischen" bulgarischen Kommunisten in diesem Punkt von tiefsitzenden Aversionen ihres Volkes gegen die Türken eingedenk deren 500jähriger Fremdherrschaft leiten ließen. Drastischere Maßnahmen folgten: 1974 wurde der türkische Sprachunterricht an den Schulen abgeschafft, und ab 1975 verzichtete man auf die Eintragung der Nationalität in den Personalausweisen.

Der Höhepunkt an staatlicher Restriktion gegenüber der türkischen Volksgruppe war Ende 1984/Anfang 1985 erreicht. Es begann damit, daß - zumeist in der Nacht - Sondereinheiten der Polizei ganze Dörfer umstellten und sich die türkischen Bewohner mit vorgehaltener Waffe aufgefordert sahen, aus einem bereitliegenden Namensverzeichnis einen neuen, bulgarischen Namen auszuwählen. Die Siedlungsgebiete der Minderheit wurden offiziell zu Sperrzonen erklärt und von Militär und Polizei abgeriegelt.

Ferner kam es zur Schließung von Schulen und Klassenzügen für die Minderheit, zum Verbot des Gebrauchs der türkischen Sprache in der Öffentlichkeit unter Androhung von Geldstrafen, zur Behinderung der freien Religionsausübung der Muslime (beispielsweise durch hohe Geldstrafen oder Haft bis zu drei Jahren für die Durchführung der traditionellen muslimischen Knabenbeschneidung) und zur Abschaffung türkischsprachiger Radio- und Zeitungsbeiträge.

Bulgarien sei ein "monolithischer Staat" mit nur einer Nationalität, erklärte Mitte März 1985 der Sekretär der bulgarischen KP, Dimitar Stanisew. Im Verhältnis zur Türkei hatte dies alles ernste Verstimmungen zur Folge. Anti-bulgarische Proteste bewegten über Monate die türkische Öffentlichkeit, die die Pomaken und andere muslimische Minderheiten in aller Regel gleich zur türkischen Volksgruppe hinzurechnete. Durch die Medien geisterte damals die Zahl von "1,5 Millionen verfolgten Landsleuten". Sehr verschieden waren die in der türkischen Presse kursierenden Opferzahlen der diversen blutigen Zusammenstöße türkischer Demonstranten mit den bulgarischen Sicherheitskräften: Zwischen vierzig und 2.500 Tote soll es infolge der Polizeiaktionen unter den Angehörigen der Minderheit in den Jahren 1984/85 gegeben haben. Ein am 2. April 1986 vorgelegter Bericht von amnesty international spricht, wohl realistisch, von mindestens hundert Getöteten.

Die Behörden in der Türkei gewährten ihren geflüchteten Landsleuten allerdings nur ein befristetes Bleiberecht, so daß etwa die Hälfte der etwa 300.000 vertriebenen Türken unmittelbar nach dem Sturz Todor Schiwkows 1989 in ihre alte Heimat zurückkehrte. Das Kapitel der Wanderungsbewegungen dieser Volksgruppe war damit jedoch keineswegs abgeschlossen wie statistische Daten des ersten Halbjahres 1992 zeigen, wonach erneut zwischen 35.000 und 50.000 Menschen Bulgarien in Richtung Türkei verließen.

Nach der großen politischen Wende in Bulgarien Ende 1989 und 1990 wurde der staatliche Druck auf die Türken und andere Minderheiten wie Makedonier, Pomaken, Gagausen, Armenier, Griechen, Tataren, Aromunen und Juden abgeschwächt. Schon am 29. Dezember 1989 kündigte das ZK der bulgarischen Kommunisten (BKP; im April 1990 Umbenennung in BSP) an, die Zwangsbulgarisierung der türkischen Volksgruppe aufzuheben. Im November 1990 wurden Änderungen zum Namensgesetz beschlossen und damit die bis dato festgeschriebene Diskriminierung von Angehörigen der Minderheiten (Festlegung auf die üblichen bulgarischen Namensendungen "-ow" und "-ew") beseitigt. Ohne umständliche bürokratische Verfahren konnten nun auf den Standesämtern wieder die alten Namen eingetragen werden. Der Unterricht in der türkischen Muttersprache war wieder möglich, sofern nicht der Mangel an qualifizierten Lehrern einen Strich durch die Rechnung machte.

Anfänglich gab es auf lokaler Ebene noch einige Widerstände in der Bevölkerung gegen diese Korrektur vorherigen Unrechts. Spannungen wie im Sommer 1993 in Momtschilgrad blieben allerdings Einzelfälle. Dort hatte der von der Bewegung für die Rechte der türkischen Minderheit (BRF) dominierte Stadtrat den Beschluß gefaßt, mehreren Straßen Namen zu geben, die in Bezug zur türkischen Kultur stehen, und war danach vom Bezirksgericht von Kirdschali trotz der formellen Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung gemaßregelt worden.

Ganz allgemein kam den Türken in dieser Zeit zugute, daß Sofia aufgrund ausbleibender Kredite aus den USA, West- und Mitteleuropa auf eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem türkischen Staat dringend angewiesen war. Dieser investiert in nicht unerheblichem Maße in Bulgarien, wobei deutliche Schwerpunkte in jenen Gebieten zu beobachten sind, in denen Angehörige der türkischen Minderheit und der Pomaken leben, also in Deliorman und Ludogorie in Nordbulgarien bzw. in den Ost- und Westrodopen sowie in Pirin-Makedonien im Süden des Landes.

Demographische Entwicklung zugunsten der Minderheiten

Nach den Parlamentswahlen vom Oktober 1991 mit einer Art Pattsituation zwischen der postkommunistischen BSP und der Union der Demokratischen Kräfte (SDS) stand die Bewegung für Rechte und Freiheiten der türkischen Minderheit (BRF) als drittstärkste Partei plötzlich als Zünglein an der Waage da. Und dies, obwohl es die Partei eigentlich gar nicht hätte geben dürfen, da die bulgarische Verfassung eine Bildung politischer Parteien auf ethnischer oder religiöser Grundlage verbietet. Doch mit Rücksicht auf Ankara akzeptierten die Mächtigen in Sofia die Existenz der "Bewegung", die nach ihrem politischen Seitenwechsel 1992 auch in den Folgejahren als schwer einzuschätzendes Mitglied der sozialistisch dominierten Regierungskoalition eine wichtige Rolle spielte und minderheitspolitisch einiges bewirkte.

Im Dezember 1992 fand eine Volkszählung statt, bei der auch die ethnische Identität, die Muttersprache und die Religion abgefragt wurden. Von den 8,5 Millionen Staatsbürgern Bulgariens bezeichneten sich 822.000 als Türken, 288.000 als Roma und 65.500 als Pomaken (Muslime bulgarischer Abstammung). Fachleute schätzen die Zahl der Zigeuner mit 550.000 sowie die der Pomaken mit 250.000 Personen allerdings wesentlich höher ein. Viele Angehörige dieser beiden ethnischen Gruppen haben offenbar die Selbstbezeichnung "Türken" gewählt. Belegt ist dies beispielsweise für die etwa 35.000 bulgarischsprachigen Pomaken aus dem Mesta-Tal.

Sofias EU-Ambitionen haben ihren Teil zur Stärkung des Selbstbewußtseins der bulgarischen Türken beigetragen, deren Vertreter mit Blick auf Brüssel immer wieder auf wirkliche oder nur angebliche minderheitenpolitische Unzulänglichkeiten verweisen können. Auch die fortgesetzte demographische Entwicklung zugunsten der Minderheit sowie die weltumspannenden aggressiven Tendenzen des Islam nähren die Ängste in der bulgarischen Titularnation. Vor diesem Hintergrund scheint es nur mehr eine Frage der Zeit zu sein, wann es in dem Balkanland mit seinen gut acht Millionen Einwohnern wieder zu größeren ethnischen Unruhen kommt.

Foto: Moslemische Pomakenfrauen bei Hochzeitsfeier, Ribnovo 2006: Durch EU Selbstbewußtsein gestärkt

Foto: EU-Aspirant Bulgarien: Von 8,5 Einwohnern 1,5 Millionen-Minderheit


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen